40 Jahre Helsinki Schlussakte: Die Rolle der OSZE in der Überwindung des Ost-West Konfliktes

Von Stephanie Liechtenstein

Vierzig Jahre nach Unterzeichnung der Helsinki Schlussakte, dem Gründungsdokument der heutigen Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), sieht sich die Organisation mit der Tatsache konfrontiert, dass sämtliche Prinzipien dieser Schlussakte im Zuge des Ukraine Konfliktes verletzt wurden. Dennoch konnte sich die OSZE als zentrale Vermittlerin in der Krise behaupten und zur Entschärfung des Konfliktes beitragen. Die OSZE sowie der von der OSZE Troika im Dezember 2014 bestellte Weisenrat müssen jedoch über die unmittelbaren Konfliktlösungsmechanismen hinaus denken, und sich mit den primären Ursachen der erneuten Ost-West Konfrontation beschäftigen.

Die Helsinki Schlussakte als diplomatisches Meisterwerk

Vor 40 Jahren, am 1. August 1975, unterzeichneten 35 Staats- und Regierungschefs die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Das Dokument, welches sich mit Fragen der Sicherheit in Europa beschäftigt, war das Ergebnis von zwei Jahren intensiver Verhandlungen zwischen den 7 Staaten des Warschauer Paktes, den 15 NATO Staaten sowie 13 neutralen Ländern. Die Schlussakte ist kein völkerrechtlicher Vertrag, sondern eine politische Absichtserklärung. Dennoch feilschten die Staaten bis zum Schluss um jeden Satz und jedes Wort.

Die Schlussakte ist ein diplomatisches Meisterwerk, da sie zunächst die Interessen und Ziele der Sowjetunion und des Westens gleichermaßen widerzuspiegeln schien. Beide Seiten hatten bei der Unterzeichnung der Schlussakte den Eindruck, als Sieger der Verhandlungen hervorzugehen: Die Sowjetunion hatte die Festschreibung der Grenzen der Nachkriegsordnung erreicht, der Westen konnte für sich die Aufnahme der Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten in die Schlussakte verbuchen.

Als Kompromiss entstanden die sogenannten ‘drei Körbe‘ von Helsinki: Der erste Korb umfasste vorwiegend militärische Sicherheitsfragen, der zweite Kooperation in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Umwelt und der dritte die Achtung der Menschenrechte sowie Kulturaustausch. Eine der wichtigsten Errungenschaften der Helsinki Schlussakte war außerdem der Dekalog (als Teil des ersten Korbes), welcher zehn Prinzipien enthält, die das Verhalten der Staaten untereinander, sowie das Verhalten der Staaten in Bezug auf ihre Bürgerinnen und Bürger regeln.

Die KSZE Nachfolgetreffen in Belgrad (1977-78), Madrid (1980-83) und Wien (1986-1989) dienten der Überprüfung der Einhaltung der Schlussakte sowie der Fortführung des Dialogs zwischen Ost und West während des Kalten Krieges. Durch diese Konferenzen erhöhte sich der Druck auf das sowjetische Regime in Moskau die in der Schlussakte garantierten Menschenrechte und Grundfreiheiten einzuhalten. Entstehende Helsinki Gruppierungen sowie eine Reihe anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen (wie etwa Charter 77 in der Tschechoslowakei oder Solidarnosc in Polen) beriefen sich auf die Helsinki Schlussakte und forderten deren Einhaltung ein. Der KSZE Prozess und die Schlussakte leisteten somit einen wichtigen Beitrag zur Beendigung des Kalten Krieges.

Die OSZE als wichtige Vermittlerin in der Ukraine Krise

Heute, 40 Jahre später, muss man feststellen, dass seit Ausbruch der  Ukraine Krise sämtliche Prinzipien der Schlussakte (speziell die des Dekalogs) verletzt wurden und nicht mehr zu gelten scheinen. Durch die Annexion der Krim im März 2014 sowie die militärische Unterstützung der Rebellen in der Ostukraine hat Russland die Prinzipien der Unverletzlichkeit der Grenzen, der territorialen Integrität, der friedlichen Regelung von Streitfällen sowie die Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen missachtet.

Trotz der Verletzung dieser wichtigen Prinzipien der Helsinki Schlussakte hat sich die aus der KSZE entstandene OSZE im Zuge der Ukraine Krise unter dem Schweizer OSZE Vorsitz im Jahr 2014 als unumstrittenste und wichtigste Vermittlerin etabliert. Sämtliche OSZE Teilnehmerstaaten – einschließlich Russland und der Ukraine – haben sich einstimmig zur Entsendung einer OSZE Sonderbeobachtermission in die Ukraine im März 2014 entschieden. Außerdem konnte die Trilaterale Kontaktgruppe der OSZE einen Waffenstillstand (Minsker Vereinbarungen) für die Ostukraine aushandeln. Diese Konfliktlösungsmechanismen sind von zentraler Bedeutung und helfen den Konflikt zu entschärfen.

Der Waffenstillstand wird derzeit weitgehend eingehalten. Eine endgültige Entscheidung über den Status der Ostukraine und eine politische Einigung gibt es jedoch noch nicht. Ob diese Einigung in naher Zukunft zustande kommt ist fraglich, denn derzeit sieht es ganz danach aus, als ob Russland einen weiteren sogenannten ‘eingefrorenen Konflikt‘ in der Ostukraine anstrebt – denn dieser könnte die strategischen und realpolitischen Interessen Moskaus bedienen. Es scheint also ganz so, als ob die wichtigen Konfliktlösungsmechanismen der OSZE nur ein Symptom bekämpfen, nicht aber die wirkliche Ursache.

Gründe für die erneute Ost-West Konfrontation

Um die erneute Konfrontation zwischen Russland und dem Westen zu verstehen, muss man sich geschichtlich mit der Zeit nach dem Fall der Berliner Mauer beschäftigen. Im Februar 1990 begannen Verhandlungen zwischen der Sowjetunion, Amerika, der Bundesrepublik Deutschland (BRD), der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), sowie Großbritannien und Frankreich über die Wiedervereinigung Deutschlands (Zwei-plus-Vier-Vertrag). Im Zuge dieser Verhandlungen wurde auch über einen möglichen Beitritt eines wiedervereinigten Deutschlands zur NATO diskutiert. Die westlichen Mächte unterstützten einen solchen Beitritt, welcher jedoch für die Sowjetunion aus real- und sicherheitspolitischen Gründen schwierig war.

Nun scheiden sich die Geister der Historiker, aber auch die der damaligen Politiker, ob man Moskau damals ein Versprechen gegeben hat, die NATO ‘no inch further‘ Richtung Osten zu erweitern. Dies unter der Voraussetzung, dass die Sowjetunion einer Wiedervereinigung Deutschlands - und letztendlich auch einem NATO Beitritts eines wiedervereinigten Deutschlands - zustimmt.

Dies zu beurteilen ist nicht Ziel dieses Artikels. Wichtig ist jedoch festzuhalten, dass damals die Aussagen nicht vertraglich festgehalten wurden und daher ein Spielraum für unterschiedliche Interpretationen besteht. Tatsache ist, dass Russland und der Westen die damaligen Aussagen unterschiedlich interpretieren und sich daraus eine sich ständig zuspitzende Spannung ergeben hat – die bis heute anhält.

Während der 1990er Jahre unternahm Russland außerdem mehrere Anläufe die OSZE in eine vertragliche Sicherheitsorganisation umzuwandeln mit einem Entscheidungsgremium ähnlich dem UNO Sicherheitsrat. [1] Dies - so Moskau - würde Russland mit seinen westlichen Partnern innerhalb einer paneuropäischen Sicherheitsorganisation gleichstellen. Diese Forderung wurde für Moskau speziell nach der Auflösung des Warschauer Paktes von zentraler Bedeutung. Obwohl dieses Konzept von einigen EU Staaten anfänglich unterstützt wurde (bis ca. 1994), konnte es sich nicht durchsetzen und tatsächlich begann die NATO Osterweiterung im Jahr 1999 mit Polen, Tschechien und Ungarn.

Hier ist jedoch wichtig festzuhalten, dass die NATO Russland nicht völlig außen vor gelassen hat. 1994 wurde Russland in die ‘Partnerschaft für den Frieden‘ aufgenommen und 1997 wurde der NATO-Russland Rat gegründet sowie die ‘Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit‘ unterzeichnet.

Weitere NATO Osterweiterungen in den Jahren 2004 und 2009 führten jedoch in Russland zu einem immer stärker werdenden Gefühl der Unsicherheit. Die Grenzen der NATO rückten immer näher an Russland heran. Dies empfand man in Russland als besonders provokant, da der Westen im Jahr 1990 - aus russischer Sicht - versprochen hatte, dies nicht zu tun.

Und hier kommt nun der Konflikt in der Ostukraine ins Spiel. Als die Ukraine unter dem ehemaligen Präsidenten Viktor Janukowytsch kurz davor stand, ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, intervenierte Moskau. Denn eine westliche Annäherung der Ukraine an die EU (und womöglich zu einem späteren Zeitpunkt auch an die NATO) wäre nicht im geopolitischen und strategischen Interesse Russlands. Die Ukraine stellt einen Puffer zwischen Russland und der NATO dar, außerdem ist die russische Schwarzmeerflotte per Vertrag von 1997 beziehungsweise 2010 in Sewastopol stationiert. Eine westliche Orientierung der Ukraine könnte in den Augen Moskaus all das gefährden. Die völkerrechtlich illegale Annexion der Krim sowie die militärische Unterstützung der Rebellen in der Ostukraine sind in diesem Zusammenhang zu sehen – dies soll jedoch kein Versuch einer Rechtfertigung des russischen Vorgehens im Ukraine Konflikt sein, sondern lediglich eine Abklärung der möglichen Beweggründe.

Ein eingefrorener Konflikt bedient also die Interessen Russlands, da somit die Ukraine gespalten bleibt und dadurch eine vollständige westliche Annäherung des Landes erschwert wird. Andere eingefrorene Konflikte wie jener um Transnistrien oder auch um Abchasien und Südossetien folgen einer ähnlichen Logik.

Dialog zur Ursachenbekämpfung

Um den Kern des Problems zu lösen, muss die OSZE daher neben den wichtigen Konfliktlösungsmechanismen wie der Sonderbeobachtermission oder der Trilateralen Kontaktgruppe, einen ständigen Dialog mit Russland innerhalb der OSZE aufbauen, der sich mit der Ursachenbekämpfung beschäftigt.

Die OSZE eignet sich besonders gut dafür, da sie alle relevanten Staaten auf gleicher Basis in sich vereint und den Begriff der Sicherheit allumfassend definiert. Die OSZE ist die einzige regionale Sicherheitsorganisation nach Kapitel VIII der Charter der Vereinten Nationen, in der Russland mit Amerika, den europäischen Staaten sowie den Nachfolgestaaten der Sowjetunion gleichgestellt ist. Denn in der OSZE herrscht das Konsensprinzip, wonach Beschlüsse nur einstimmig getroffen werden können.

Ein weiterer Vorteil der OSZE ist, dass die Organisation den Begriff der Sicherheit nicht nur militärisch versteht (wie dies in der NATO der Fall ist), sondern auch die wirtschaftliche Komponente inkludiert sowie die Bedeutung und Achtung der Menschenrechte für Sicherheit anerkennt. Diese Definition geht auf die oben beschriebenen drei Körbe von Helsinki zurück. Sie lässt zu, dass der Sicherheitsdialog in der OSZE thematisch ausgeweitet werden kann.

Außerdem hat sich im Zuge der Ukraine Krise herausgestellt, dass die OSZE von sämtlichen Konfliktparteien als neutraler Akteur wahrgenommen wird, der keine wirtschaftlichen oder sonstigen Eigeninteressen verfolgt.

Vor allem hat die OSZE seit den 1970er Jahren bewiesen, dass sie das einzige Forum ist, in dem der Dialog zwischen Ost und West auch während schwierigen Krisen aufrechterhalten werden kann. Der Dialog wurde nicht unterbrochen, auch nicht während der sowjetischen Invasion in Afghanistan (1979), den beiden Kriegen in Tschetschenien (1994-1996 bzw. 1999-2009), dem Krieg zwischen Georgien und Russland (2008), sowie dem seit 2014 andauernden Ukraine Konflikt.

All diese Aspekte machen die OSZE zum idealen Forum eines Dialoges über die Ursachen der erneuten Ost-West Konfrontation. Dieser Dialog sollte zum Ziel haben, ein gemeinsames Verständnis über die Geschichte zu erlangen um somit Versöhnung zu erreichen und um mit neuen Ideen gemeinsam die Zukunft gestalten zu können. Eine Historikerkommission könnte dem Dialog zur Seite stehen.

Diese Idee (sowie eine Reihe anderer Punkte) wurde in einem kürzlich veröffentlichten Bericht des Netzwerks der OSZE Think Tanks ins Spiel gebracht. Das Netzwerk gründet auf einer Idee des OSZE Generalsekretärs Lamberto Zannier. Es wurde formell auf einer OSZE Sicherheitskonferenz im Juni 2013 gegründet. Derzeit umfasst das Netzwerk 44 Rechercheinstitutionen aus 33 Ländern des OSZE Raumes. Es handelt sich bei dem Netzwerk um eine informelle Track II Initiative, die sich zum Ziel gemacht hat, innovative Vorschläge zur Lösung von bestehenden Sicherheitsproblemen des OSZE Raumes vorzulegen. Die Track II Initiative ist vor allem im Bereich von politisch sensitiven Themen von zentraler Bedeutung, da sie wissenschaftlich fundierte Vorschläge außerhalb der politischen und ideologischen Gräben ausarbeiten kann.

Die Empfehlungen des Netzwerks richten sich an den OSZE Weisenrat, welcher im Jahr 2014 unter dem Vorsitz von Botschafter Wolfgang Ischinger beauftragt wurde, Ratschläge zur Festigung der europäischen Sicherheit auszuarbeiten. Der Weisenrat wurde von der OSZE Troika beim OSZE Ministerrat in Basel im Dezember 2014 bestellt, da sich die 57 OSZE Teilnehmerstaaten in Basel nicht auf eine substantielle ministerielle Erklärung im Bezug auf die Ausgestaltung der europäischen Sicherheitsarchitektur und die Rolle der OSZE darin (Helsinki+40 Prozess) einigen konnten. Der Weisenrat besteht aus Vertretern der 57 OSZE Teilnehmerstaaten und ist beauftragt Anfang Dezember seinen Endbericht vorzulegen. Dieser wird mit Spannung erwartet. Zu hoffen ist, dass sich darin Vorschläge befinden, die sich mit der Bekämpfung der Ursachen der heutigen Ost-West Spannungen befassen.

QUELLEN

[1] Vergleiche dazu: Wolfgang Zellner (2005) ‘Russia and the OSCE: From High Hopes to Disillusionment‘. Cambridge Review of International Affairs, Vol. 18, Issue 3, pp. 389-402.;
P. Terrence Hopmann (2010) ‘Intergovernmental Organizations and Non-State Actors, Russia and Eurasia: The OSCE’. In Maria Raquel Freire and Roger E. Kanet (Eds.) Key Players and Regional Dynamics in Eurasia: The Return of the Great Game (Houndmills, Basingstoke, Hampshire, New York: Palgrave Macmillan).

Über die Autor*innen

Stephanie Liechtenstein ist Website-Editorin und Mitglied der Redaktionsleitung von ‘Security and Human Rights’ (www.shrblog.org, Twitter: @SHRblog), einer einmal im Quartal erscheinenden wissenschaftlichen Zeitschrift, die sich der Arbeit und den Grundsätzen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) widmet. Von 2003 bis 2008 hatte sie unterschiedliche Positionen bei der OSZE inne. Sie war unter anderem die leitende politische Assistentin des OSZE Generalsekretärs.
Stephanie Liechtenstein hat einen Master of Science in der Geschichte Internationaler Beziehungen von der London School of Economics and Political Science (LSE) und promoviert derzeit in Politikwissenschaft an der Universität Wien.