Buchrezension: Menschenrechtsbildung an Gymnasien: Verständnisse, Chancen und Herausforderungen
Beitrag von Melanie Hussak
Menschenrechtsbildung in der gegenwärtigen Form geht auf die Erfahrungen der Gräuel des Zweiten Weltkriegszurück. Im Zentrum der Menschenrechtsbildung steht daher die Beschäftigung mit pädagogischen Ansätzen zur Überwindung von Gewalt in unterschiedlichen Formen. Diese zeichnen sich vielfach durch eine starke Zielfokussierung, festgehalten in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, und einer damit verbundenen Handlungsorientierung aus. Kodifizierte Menschenrechte fungieren als Grundlage und Leitlinie gleichermaßen für ethisches wie rechtebasiertes Handeln. Hinzu kommt eine menschenrechtliche Haltung, die in der Menschenrechtsbildung herausgearbeitet und angeregt werden soll. Will Menschenrechtsbildung aber mehr sein als das bloße Wissen über kodifizierte Menschenrechte, muss ein Bewusstsein für die persönliche Verantwortung an der Verwirklichung der Menschenrechte vermittelt werden. Im schulischen Kontext verlangt dies, die Erlebbarkeit der normativen Bedeutung der Menschenrechte im Alltag erfahrbar zu machen.
Umso bedeutsamer ist die Untersuchung der Sichtweisen von Lehrpersonen zu Menschenrechtsbildung im Unterricht, da sie diese aktiv im schulischen Kontext umsetzen sollen. Diesem Spannungsfeld aus Wissen, Haltung, Handlung und Lernumgebung (in der einschlägigen Literatur in Bildung über, für und durch Menschenrechte unterteilt), in dem sich Lehrpersonen befinden, widmet sich Stefanie Rinaldi in ihrer als Monographie veröffentlichten Dissertationsschrift.
Die Studie nimmt ihren Ausgangspunkt bei der Rolle der Lehrpersonen in der Umsetzung der Menschenrechtsbildung und berücksichtigt damit einen in der empirischen Forschung lange vernachlässigten Aspekt. Rinaldi bezieht sich dabei auf aktuelle Theorien der Bildungs- und Lehrpersonenforschung, die die Sichtweisen von Lehrpersonen als Schlüsselfaktor identifizieren.
Anhand von Gruppendiskussionen untersucht Rinaldi die Sichtweisen und Verständnisse von Schweizer Gymnasiallehrpersonen zu Menschenrechtsbildung. Ausgehend von den Ergebnissen dieser hat die Studie zum Ziel, Möglichkeiten für die weitere Umsetzung und Entwicklung der schulischen Menschenrechtsbildung an Gymnasien zu erarbeiten. In den Blick wird dabei das Verständnis von Menschenrechtsbildung gerückt wie ebenso die Einstellungen und Überzeugungen zu Lerninhalten, Lernzielen, Lehr-Lern-Prozessen sowie Bildungsauftrag der Gymnasien wie damit verbundenen Herausforderungen für den Bereich Menschenrechtsbildung. Der Fokus auf Lehrpersonen in der Schweiz ist von spezifischem Interesse, da Menschenrechtsbildung und verwandte Bildungskonzepte keine expliziten Bestandteile der Lehrpläne für Schweizer Gymnasien sind. Die Frage, auf welche Konzepte sich Lehrpersonen alternativ beziehen, ist daher besonders bedeutsam.
Zusätzlich zu den genannten Punkten rücken damit ebenso personen- und kontextbezogene Sichtweisen zu menschenrechtsbasierten Lernumgebung, zur Selbstwirksamkeit und zu gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen in das Zentrum der Untersuchung.
Die besondere Relevanz der Studie von Rinaldi liegt darin, subjektive Bedeutungen und Verständnisse als Grundlage der Menschenrechtsbildung anzuerkennen und zu untersuchen. Die Beschäftigung mit Menschenrechten bietet Lehrpersonen und jungen Menschen die Möglichkeit, sich mit Werten, Haltungen und persönlichen wie gesellschaftspolitischen Prozessen auseinanderzusetzen und eigene Handlungsmöglichkeiten zu reflektieren. Die Anregung von Lernprozessen ist daher auch in einem hohen Maße subjektiv geprägt.
Aus Perspektive der Forschung zu Menschenrechtsbildung trägt die Autorin zudem zum Schließen von zwei weiteren Forschungslücken bei: der Abweichung von Theorie und Praxis sowie einer empirisch fundierten Reflexion der zahlreichen Herausforderungen, die sich in der pädagogischen Umsetzung der Menschenrechtsbildung aufgrund des skizzierten Spannungsfeldes stellen.
Die Ergebnisse der Studie bestätigen die Relevanz und subjektiven Erfahrungen und Konzepte von Lehrpersonen als determinierenden Faktor und wichtige Voraussetzung für die Integration von Menschenrechtsbildung in den schulischen Alltag und für den Lernerfolg der Schüler*innen.
Rinaldi nutzt ihre Ergebnisse um aufgrund deren Bedeutung für den pädagogischen Alltag Ideen für die pädagogische und methodische Weiterentwicklung an Schweizer Gymnasien zu skizzieren und Vorschläge zu institutionellen Maßnahmen, unterstützenden Materialien sowie Aus- und Weiterbildung zu erstellen. Auch das Backcover der Monographie verspricht neben der Präsentation der Sichtweisen von Lehrpersonen zum einen auch Ableitungen wie Menschenrechtsbildung pädagogisch, methodisch und institutionell weiterentwickelt werden kann. Zum anderen kündigt es Ideen für die pädagogische Umsetzung an. Hinter dieser Ankündigung bleibt die Studie etwas zurück. Die Ableitungen werden nur rudimentär skizziert und bleiben letztlich nur erste Anregungen. Sie laden jedoch zum Weiterdenken und -forschen an und können durchaus als sehr wertvolle Forschungsdesiderata betrachtet werden. Sie zeigen Impulse für eine wenig erforschte Menschenrechtsbildung auf, die sich zuweilen mit der Erstellung von Unterrichtsmaterialien und Methodensammlungen zufriedengibt.
Auch wenn die Autorin zu Ende des Buches betont, dass die Schlussfolgerungen der Studie aufgrund des Schwerpunkts auf das schweizerische Bildungssystem und dessen Defizite im Bereich Menschenrechtsbildung nur wenig auf andere Kontexte transferiert werden können, bietet das Buch nach Einschätzung der Rezensentin dennoch wertvolle Impulse für schulische Menschenrechtsbildung auch außerhalb der Schweiz wie grundlegend für Forschung zu Menschenrechtsbildung.
Aufgrund der sehr umfassenden Literaturaufarbeitung ist das Buch von Rinaldi obwohl es in erster Linie eine Forschungsarbeit ist, zudem ein sehr lohnenswerter Einstieg für Lehrpersonen, Multiplikator*innen und weitere Interessierte der schulischen Menschenrechtsbildung. Durch den Bezug auf einschlägige internationale Dokumente der Menschenrechte und Menschenrechtsbildung sowie durch die Auseinandersetzung und Abgrenzung mit verwandten Bildungsbereichen wie bspw. der Friedenspädagogik, werden Inhalt, Ansatzebenen und Ziele der Menschenrechtsbildung klar verdeutlicht. Ebenso wird ein Einstieg in gegenwärtige Diskurse der Menschenrechtsbildung ermöglicht. Auch wenn nicht alle Erwartungen in Bezug auf angekündigte Themen zur Gänze erfüllt werden, ist das Buch dennoch sehr lesenswert und ein wichtiger Beitrag zu einer dringend benötigten empirisch fundierten Menschenrechtsbildung und Bildungsforschung.
Über die Autor*innen
Melanie Hussak ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Friedensakademie Rheinland-Pfalz. Sie hat an der Universität Wien die Diplomstudien Politikwissenschaft und Volkswirtschaft abgeschlossen. Später absolvierte sie das Nachdiplomstudium ‚Interdisciplinary Conflict Analysis and Conflict Resolution‘ an der Universität Basel. Frau Hussak hat den Verein „Frieden leben“ mitbegründet und war im Bereich der Konflikttransformation und Friedensbildung in mehreren europäischen Ländern sowie Israel und Palästina aktiv. Ihre aktuellen Arbeits- und Forschungsschwerpunkten umfassen Shared Society, Friedensprozesse indigener Communities in Nordamerika sowie Friedenspädagogik und Friedensbildung in Theorie und Praxis.