Interview: Shared Societies – Gemeinsam für ein neues Miteinander

Wie kann ein friedliches Miteinander in einer Gesellschaft erreicht werden? Wie können alle Menschen einer Gesellschaft gleichberechtigt am öffentlichen und sozialen Leben teilhaben. Mit diesen Fragen beschäftigt sich das internationale Programm Shared Society. Wir diskutieren mit drei Initiatoren des Programms zu Fragen, Herausforderungen und Dilemmata in der Entwicklung gemeinsamer Gesellschaften.  Wie gehen Gesellschaften mit identitätsbedingten Spaltungen und Konflikten zwischen verschiedenen Gruppen um? Das klingt alles theoretisch und abstrakt? Das ist es aber gar nicht: Der Beweis unser Gespräch mit Clem McCartney von der Universität Ulster in Nordirland und Ran Kuttner von der Universität Haifa in Israel, die ihre Erfahrungen mit uns teilen und durch ihre anwendungsbezogenen Beispiele zeigen, was auch wir für eine Shared Society tun können.

Das Interview ist Teil unseres Podcasts Fokus Frieden. Die deutsche Übersetzung der englischsprachigen Podcast-Episode haben wir hier für Sie aufbereitet: Wenn Sie sich das Interview lieber anhören möchten, dann klicken Sie hier.  Sie gelangen zur login-freien Streamingplattform 

Melanie: Clem, du hast das Konzept der ‚Shared Society‘ in seiner heutigen Form geprägt. Kannst du uns ein bisschen darüber erzählen, wie und in welchem Kontext das Konzept entstanden ist?

Clem: Nun, ich glaube, dass es die Idee einer ‚Shared Society‘ wahrscheinlich schon so lange gibt, wie es Menschen gibt. Aber in 2007 wurde ich gefragt, ob ich dabei helfen würde, die Entwicklung eines Projekts zu koordinieren, das sich mit den politischen Dimensionen und dem Umgang mit sozialer Ausgrenzung befasste. Das Projekt wurde vom Club de Madrid koordiniert, einer Organisation ehemaliger Präsident*innen und Premierminister*innen, und durch die Alan B. Slifka Stiftung finanziert. Alan steckte sehr viel Zeit und Mühe in die Bearbeitung von Fragen des gemeinsamen gesellschaftlichen Zusammenlebens und Menschen einander näher zu bringen. Aber er hatte die Sorge, dass seine Arbeit keine großen positiven Auswirkungen auf die Vermeidung sozialer Ausgrenzung hatte. Also entwickelten wir dieses Programm und wandelten das eher negative Thema der sozialen Ausgrenzung in etwas Positives um, das wir dann eine ‚Shared Society‘ nannten. Es begann also eigentlich damit, dass wir versuchten, das Thema der sozialen Ausgrenzung anzugehen und dann unseren Blick zu erweitern und zu schauen, wie wir eine ‚Shared Society‘ auf allen Ebenen schaffen können, nicht nur auf der zwischenmenschlichen Ebene, sondern auch zwischen Gruppen wie auf der nationalen, politischen und wirtschaftlichen Ebenen. 

Rebecca: Du hast den Begriff soziale Ausgrenzung erwähnt. Vielleicht könntest du unseren Zuhörer*innen kurz erklären, was du genau mit sozialer Ausgrenzung meinst?

Clem: Nun, in jeder Gesellschaft, eigentlich in den meisten Gesellschaften, werden einige Menschen außen vorgelassen und ausgeschlossen. Einige Menschen haben mehr Einfluss, mehr Macht und mehr Ressourcen als andere. Manche Menschen stehen am Rande der Gesellschaft. Das kann viele Gründe haben, religiöse Gründe oder die der ethnischen Zugehörigkeit, vielleicht auch des Wohnorts innerhalb der Gesellschaft, manche Menschen leben in einem abgelegenen Teil des Landes. Also im Grunde genommen haben eine oder mehrere Gruppen Macht und sie teilen diese Macht unter sich auf, und geben dadurch den anderen Gruppen und Menschen den Eindruck, dass sie keine Rolle spielen. Das schafft viele Probleme für die Menschen, die ausgegrenzt werden. Aber noch wichtiger ist, dass es Probleme für die ganze Gesellschaft schafft, weil die Ressourcen ausgegrenzter Menschen verschwendet werden und sie unglücklich und unzufrieden sind. Dadurch können die ausgegrenzten Menschen, wenn man so will, eine Herausforderung für den Status Quo werden, was in Konflikten und gewaltsamen Auseinandersetzungen enden könnte. Unser Interesse bestand also vor allem darin, zu versuchen, Einfluss darauf zu nehmen, wie Menschen eine Gesellschaft konzipieren, die wir eine ‚Shared Society‘ nennen.

Rebecca: Und wie wurde diese Vision von den Menschen oder den Premierminister*innen beziehungsweise Präsident*innen aufgenommen?

Clem: Nun, es ist ein bisschen wie mit Omas Apfelkuchen, man kann nicht schlecht darüber reden. Aber wie ich soeben sagte, sind wir Menschen sehr gut darin, uns Gründe auszudenken, um uns nicht aktiv für eine ‚Shared Society‘ einzusetzen. Aber sich wirklich öffentlich zu äußern und zu sagen, dass eine ‚Shared Society‘ generell keine gute Idee ist, tut fast niemand. Es mag vielleicht nur ein oder zwei Länder auf der Welt geben, die sagen würden: „Das ist uns alles egal, wir wollen das alles nicht.“ Und natürlich gibt es einige Länder, in denen sie sich vielleicht nicht in einem sehr hohen Maßstab dafür einsetzen und vielleicht sagen würden: „Wissen Sie, diese indigenen Völker sind ein Problem, die sollen woanders hingehen, die halten unsere Gesellschaft nur auf, da sie sich nicht der Mehrheitsgesellschaft anschließen wollen“. Ich möchte keine Namen nennen, aber mir fallen mindestens ein oder zwei Länder ein, in denen heutzutage so geredet wird. Nichtsdestotrotz würden die meisten Leute sagen, dass es schön wäre, wenn wir alle Menschen zusammenbringen und eine gemeinsame, eine ‚Shared Society‘ Gesellschaft schaffen könnten, in der jede und jeder dazugehört. In der Realität aber wollen sich viele Leute nicht aktiv dafür einsetzen. Deshalb muss man ihnen die Probleme, mit denen sie konfrontiert sind, irgendwie erklären und darlegen, wie sie diese Probleme lösen könnten, indem sie integrativer werden, indem sie  andere Menschen und andere Gruppen anerkennen, indem sie andere in die Entscheidungsfindung einbeziehen, indem sie Möglichkeiten für andere schaffen. All die Dinge, die es braucht, damit die Menschen das Gefühl haben, dass sie zur Gesellschaft gehören und die Gesellschaft zu ihnen.

Melanie: Ran, du verwendest das Konzept auch im israelischen Kontext, hier besonders im Kontext der Bildungsarbeit von Givat Haviva. Wie hast du von dem Konzept erfahren?

Ran: Ich würde nicht sagen, dass es hier nur um die Bildungsarbeit geht, deshalb möchte ich auf ein paar wichtige Punkte eingehen, welche Clem bereits erwähnt hat. Wie zum Beispiel die ‚Shared Society‘ als Gegenentwurf zur sozialen Ausgrenzung und die strukturelle Ebene, die politisch oder wirtschaftlich sein kann und mehr als nur eine Dynamik zwischen Gruppen ist. Auch im israelischen Kontext könnte man sagen, dass die Abkehr von der Koexistenz, die einmal tatsächlich sehr in Mode war und das nicht nur in Israel, sondern im gesamten Bereich der Wissenschaft, auch in den USA. Im israelischen Kontext gab es ein gewisses Unbehagen von Seiten der Bevölkerung, da sie das Gefühl hatten, mit dem Konzept der Koexistenz nicht mehr weiterzukommen, da sie an dem Konzept der Koexistenz schon seit vielen Jahren gearbeitet haben. Zum Beispiel in Form von Intergruppen-Dialogen zwischen Juden und Arabern. Das Unbehagen kam daher, dass sie das Gefühl hatten, dass sich trotz Dialogversuchen nichts Grundlegendes verändert hatte. Sie hatten den Eindruck, am Ende des Tages geht jeder und jede wieder in seine eigene Umgebung zurück, in seine und ihre eigene politische und wirtschaftliche Situation und sich so nichts wirklich verändert. Clem sprach davon, Möglichkeiten zu schaffen. Wenn man also auf der privilegierteren Seite steht, wurde man offensichtlich in eine Gesellschaft oder einen Teil beziehungsweise ein Segment der Gesellschaft geboren, in der oder in dem man mehr Möglichkeiten hat als andere. Die Araber haben es zum Beispiel als frustrierend empfunden, dass die jüdische Bevölkerung die Araber besser kennen lernen wollte, aber sich nicht aktiv für eine Veränderung einiger grundlegender Aspekte der sozialen Struktur und des Zugangs zur Macht einsetzen wollte. Hier muss man beachten, dass wenn sich ein Wandel hin zu einer ‚Shared Society‘ vollzieht, dann geschieht dies auch im Namen politischer und wirtschaftlicher Veränderungen, was bedeutet, dass auch strukturelle Lücken und blinde Flecken geschlossen und beeinflusst werden müssen, die zu einer stärkeren Ausgrenzung führen, mit der die Araber und vielleicht auch andere Gruppen konfrontiert sind.

Rebecca: Um etwas konkreter zu werden, ihr habt von der Ko-Konstruktion von Identitäten gesprochen und ich stelle mir vor, dass vor allem in Konfliktsituationen Identität ein sehr umstrittener Aspekt ist. Daher erscheint mir die Ko-Konstruktion von Identität sehr schwierig. Wie macht ihr das also in der Praxis? Wie setzt ihr das um?

Clem: Das Konzept der ‚Shared Society‘ ist nicht unbedingt weit verbreitet. Eine ‚Shared Identity‘ würde für die Komplexität des ‚Eins‘- und des ‚Viel‘-Seins zur gleichen Zeit sprechen. Hier ist wichtig, dass ich diese ‚Shared Identity‘ nicht in eine vermischte Identität verwandeln möchte und das auch nicht erstrebenswert finde. Zum Beispiel, wenn man sich selbst in einem größeren Ganzen verliert, das könnte zu einem Kollektivismus führen, den wir von faschistischen Bewegungen kennen, die dieser Art von Kollektivismus nahe waren. Deshalb würde ich mit meiner Definition von ‚Shared Society‘ nicht so weit gehen. Ich würde sagen, dass sie sowohl die Allgemeinheit des gemeinsamen Aspekts, aber auch die Vielfalt und den Respekt vor der Vielfalt bewahren sollte. Aber zu deiner Frage nach dem Konkreten: Das Konkrete besteht in der Praxis und übersteigt so das Theoretische. Meiner Meinung nach ist dies der erste Teil eines langfristigen gemeinsamen Gesellschaftsprojekts und Prozesses, welcher sehr viel Zeit in Anspruch nimmt. Fünf Jahre sind zum Beispiel nur ein flüchtiger Augenblick und legen nur den Grundstein für die Entwicklung einer Partnerschaft im eigentlichen Sinne. Wenn wir mehr Zeit haben, dann könnten wir auch in einen Dialog über unsere Identität als Juden und Araber kommen. Dieser Dialog könnte Fragen ansprechen wie „Wie verstehen wir die Identität Israels? Sollte sie Symbole aus der jüdischen Tradition oder aus beiden Traditionen haben?“ Und so weiter. Das sind alles Fragen, die aufkommen. All diese Fragen bringen Reibungspunkte mit sich. Die Fähigkeit zu einem frühen Dialog über solch schwierige Fragen ist fast unmöglich. Warum? Weil wir als Menschen in Zeiten von Konflikten dazu neigen, uns in unserem gesicherten, festen Selbst- und Identitätsgefühl zu verschließen, wo wir uns zugehörig fühlen. Und an dieser Stelle wenden wir uns auch unserer Gruppenidentität zu. Richtig? Und dann geht es um die „In-Gruppe“ gegen die „Out-Gruppe“ und das erschwert den Dialog. Es ist dann eher eine Debatte oder eher ein Konflikt zwischen den beiden Gruppen. Deshalb beginnen wir in der Praxis mit pragmatischeren Aspekten. Zum Beispiel mit gemeinsamen Interessen und indem wir an konkreten Problemen zwischen den benachbarten jüdischen und arabischen Gemeinden arbeiten, wie der Entwicklung der wirtschaftlichen Infrastruktur. Und dann, während wir die Projekte durchführen, in denen die Vorteile der Zusammenarbeit zwischen den Gemeinden zum Vorschein kommen, wird allmählich die Fähigkeit zur Zusammenarbeit entwickelt. Die Fähigkeit den anderen mit weniger misstrauischen Augen zu sehen und in tiefere und grundlegendere Fragen vorzudringen. Wir lernen, wenn wir wollen, wie wir uns synchronisieren, wir lernen, wie man zusammen tanzt. Wir lernen, wie wir miteinander in einer Art Bewegung zusammen sein können, die Sinn macht und dadurch gibt einen Fluss, den es am Anfang nicht gab, wegen der unterschiedlichen Mentalitäten, der unterschiedlichen Kulturen, wegen des Misstrauens. Aber allmählich, ganz langsam, bewegen wir uns auf die Fähigkeit zu, uns auch mit den größeren Fragen der Identität an sich zu beschäftigen.

Melanie: Um es noch konkreter zu machen, Ran, du hast Programme für Givat Haviva konzipiert und umgesetzt und als Facilitator gearbeitet. Könntest du uns in deinen Alltag mitnehmen?

Ran: Natürlich!

Melanie: Wie sieht ein gewöhnlicher Arbeitstag bei dir aus, wenn du an ‚Shared Societies‘ in Israel arbeitest?

Ran: Zuerst ist es einmal wichtig morgens aufzuwachen, tief einzuatmen und zu sagen, dass man heute geduldig sein sollte, weil die Dinge nicht unbedingt in dem Tempo oder in der Geschwindigkeit ablaufen, wie man es sich wünschen würde. Vor allem wenn man aus dem akademischen Bereich kommt, wisst ihr, da sind die Dinge auf der theoretischen Ebene immer sehr vornehm, sehr klar, geordnet und sie machen Sinn. In der Praxis sind die Dinge anders. John Lennon hat einmal gesagt, dass das Leben das ist, was einem passiert, während man zu sehr damit beschäftigt ist, andere Pläne zu schmieden. Dies finde ich sehr passend, besonders in der israelischen Realität. Es sind harte Zeiten, um die Gesellschaft einander näher zu bringen und den Aufbau einer gemeinsamen Gesellschaft zu unterstützen. Es gibt einige politische Erwägungen und Dinge, die außerhalb unserer Arbeit geschehen, sie aber beeinflussen und wir müssen uns dessen bewusst sein. Darüber hinaus müssen wir ein Gespür für diese Dinge und Geduld und Einfühlungsvermögen für das Tempo und die Fähigkeiten der Menschen entwickeln, um voranzukommen. Außerdem müssen wir geduldig sein, denn wenn wir mit hochrangigen Beamt*innen, Bürgermeister*innen, oder Abteilungs- und Gemeindevorstehenden wie der Gemeinde für Umweltqualität oder den Ingenieuren der Stadtverwaltung zusammenarbeiten, haben sie meistens andere Dinge auf ihrer Prioritätenlisten, die dringender sind. Der Aufbau einer ‚Shared Society‘ ist nicht der erste Gedanke, den sie morgens haben und sagen: “Das ist es, was wir heute tun müssen.“ Sie haben eine lange Liste mit anderen Dingen zu erledigen und der Aufbau einer ‚Shared Society‘ kommt meistens eher weiter unten auf dieser Liste. Aber auch hier sind wir hoffentlich in drei oder vier Jahren in der Lage, die Idee der ‚Shared Society‘ in der Arbeit dieser Leute zu verankern, auch damit sie sich mit der Idee einer ‚Shared Society‘ anfreunden können. Aber manchmal wollen wir mehr als die Kommunen selbst, und dann müssen wir uns auch mal zurückhalten und dürfen nicht zu viel drängen, um nicht zu überfordern. Das zeigt auch wie wichtig es ist, dass man geduldig ist und sich bewusst sein muss, was in einem bestimmten Moment möglich ist und was nicht. Also ein gewisser Pragmatismus, welcher nicht notwendigerweise idealistisch sein muss. Der Pragmatismus soll dazu beitragen, dass Interessen identifiziert werden und wie die gemeinsame Arbeit den Interessen der Menschen in einer Weise dienen kann, dass sie aktiv daran teilhaben und sich einbringen möchten. Zusätzlich geht darum, intelligente und kluge Wege zu finden, um in diese Arbeit eine Reflektiertheit einzuflechten, die notwendig ist, um die Schwierigkeiten, die Herausforderungen zu sehen, die die Vielfalt, das Misstrauen, die kulturellen Unterschiede mit sich bringen, und wie wir diese Barrieren überwinden können, damit es uns das nächste Mal, wenn wir zusammenkommen, leichter fällt. Und es geht darum, die Arbeit auszuführen und auch andere dabei zu unterstützen. Zum Beispiel in der Umweltarbeit, wenn wir eine Eröffnungszeremonie für ein Flussbett oder eine Promenade haben, an der beide Gemeinden gearbeitet haben, feiern wir diese Zeremonien mit den Politiker*inen und mit den Gemeinden. Diese Feiern sind wichtig, weil sie das Signal aussenden, dass die gemeinsame Arbeit Sinn macht. Ich erinnere mich daran, dass mir einmal ein Vizebürgermeister, ein arabischer Vizebürgermeister, sagte: “Normalerweise, wenn ich diese riesigen gelben Planierraupen bei der Arbeit sehe, setzt mein Herz für einen Moment aus, weil ich weiß, dass sie hier sind, um etwas zu zerstören. Normalerweise geht es in diesem Kontext um Häuser, die ohne Genehmigung in arabischen Gemeinden gebaut wurden. Und jetzt fahre ich plötzlich seit einigen Monaten auf dieser Straße und sehe diese Raupen und weiß, dass sie hier sind, um diese Promenade zu entwickeln und um an der Infrastruktur unserer Gemeinden zu arbeiten. Allmählich lerne ich, mich mit dem Anblick dieser Raupen anzufreunden.“ Das ist eine gewaltige Veränderung und ein gewaltiger Fortschritt. Das ist eine gewaltige Veränderung auf der emotionalen und auf der instinktiven Ebene. Seine Einstellung dahin gehend zu verändern, sagen zu können, dass die Regierung oder die Organisationen, die von der Regierung kommen hier sind um etwas aufzubauen, nicht um zu zerstören, dass sie sind hier, um zu helfen. Das ist Teil unserer gemeinsamen Arbeit. Das ist ein Erfolg und ich würde sagen, dass meine Rolle nach der Zeremonie darin besteht, dafür zu sorgen, dass wir nicht nur da sind, um nur zu applaudieren und uns auf die Schulter zu klopfen, sondern dass wir diese Einstellung in unsere tägliche Arbeit mitnehmen und es so auf die nächste Arbeitsebene zu bringen.

Rebecca: Was ich mitnehme aus diesem sehr, sehr inspirierenden Beispiel ist, dass es bei dem Konzept der ‚Shared Society‘ auch viel um die Integration verschiedener Aspekte geht, wie wirtschaftlichen Fortschritt oder die Entwicklung der Infrastruktur, von der du sprachst. Und das solche Aspekte auch zur ‚Shared Society‘ oder zur Lösung eines Konflikts oder zu einem Paradigmenwechsel in der Art und Weise, wie Menschen ein bestimmtes Umfeld oder einen bestimmten Konflikt betrachten, beitragen.

Ran: Das stimmt. Denn wenn zum Beispiel jüdische und arabische Nachbargemeinden gemeinsam an der Entwicklung eines neuen Industrieparks arbeiten, hat die jüdische Gemeinde meist mehr Verbindungen, sie wissen, wie man mit Regierungsbeamten zusammenarbeitet, wie man bestimmte organisatorische Dinge erledigt. Während also diese verschiedenen Gemeinden zusammenarbeiten und Araber und Juden Seite an Seite arbeiten, entwickeln sie eine Beziehung zueinander und die Fähigkeit zusammenzuarbeiten. Zum Beispiel haben wir bemerkt, dass nachdem ein Projekt abgeschlossen war, die arabische Gemeinde ein anderes Projekt reibungsloser vorantrieb, zusammen mit den Regierungsbeamt*innen, vorher wussten sie nicht genau, wie sie mit ihnen zusammenarbeiten sollten. Ich möchte nur noch ein weiteres Beispiel erwähnen, bei dem wir die Dimension der Macht und Ressourcen und Ressourcenzuteilung miteinbeziehen. Wenn wir zum Beispiel einen Industriepark bauen und die arabische Gemeinde plötzlich versteht, dass es sich um ein gemeinsames Projekt handelt, bei dem alle Aufgaben und Pflichten gleichberechtigt aufgeteilt werden, dass es nicht hauptsächlich um Einnahmen für die jüdische Gemeinde geht, weil der Industriepark auf Grundstücken entwickelt werden soll, die offiziell der jüdischen Gemeinde gehören. Sie verstehen, dass sie durch eine Partnerschaft auch ein Mitspracherecht und einen Anspruch auf die Einnahmen haben und das ist nicht immer einfach, aber es ist ein riesiger Schritt.

Rebecca: Alle drei von euch arbeiten im Programm ‚Shared Society‘ und alle drei von euch kommen aus unterschiedlichen Hintergründen, beziehungsweise arbeiten in verschiedenen Kontexten. Ran, du hast uns gerade schon ein Beispiel aus deinem Kontext gegeben. Könntet ihr, Clem und Melanie, deshalb ein oder zwei Beispiele aus euren Arbeitskontexten nennen, aus Nordirland und Deutschland und wie eure Projekte sich für eine ‚Shared Society‘ einsetzen?

Clem: Ja, zuallererst würde ich gerne erwähnen, dass diese Dinge, diese Probleme des Zusammenlebens, Tag für Tag im öffentlichen Raum angegangen und gelöst werden. Das passiert nicht nur wegen der Absicht von Leuten wie uns oder von anderen Hauptakteur*innen und das trifft auch nicht nur auf unser Land oder unseren Kontext zu. Zum Beispiel, wenn man sich ‚Black Lives Matter‘ in den Vereinigten Staaten anschaut, ist da eine gewisse Spannung zwischen den gegensätzlichen Fronten, da es darum geht, in was für einer Gesellschaft die amerikanischen Bürger*innen leben wollen. Und die Menschen, entweder auf der ‚Black Lives Matter‘ oder auf der anderen Seite, welche sich gegen die Bewegung stellt, sind sehr auf ihre eigenen Bedürfnisse fokussiert und sehr beschäftigt mit ihren eigenen Bedürfnissen. Aber dann gibt es noch eine andere Gruppe Menschen, nämlich die, die sich für eine inklusivere Gesellschaft einsetzen, die wir als ‚Shared Society‘ bezeichnen könnten und es ist diese anhaltende Debatte, die letztendlich darüber entscheidet, in was für einer Gesellschaft wir leben werden und dass wir Dinge, welche um uns herum passieren, beim Namen nennen können. Aber wir müssen auch an die Geschehnisse und Dinge denken, zu denen wir selbst Stellung beziehen oder unsere Sichtweise teilen können. Und wie wir die Akteur*innen in den jeweiligen Situationen unterstützen können, damit sie bewerten können, ob das, was sie tun, tatsächlich dazu beiträgt, eine funktionierende und inklusivere Gesellschaft für alle zu schaffen, oder ob sie eine noch polarisierte, noch gespaltenere Gesellschaft schaffen würden, was auf lange Sicht sehr problematisch wäre. Was Nordirland betrifft, so habe ich hauptsächlich an Ideen gearbeitet, welche das Ziel der ‚Shared Society‘ verfolgen, ohne sie so zu benennen. Und ich habe viel von dieser Arbeit in meine Überlegungen zum Konzept der ‚Shared Society‘ aufgenommen. Wir haben sehr viel mit den Gemeinden gearbeitet und versucht ihnen zu helfen, die Spannungen zwischen ihnen zu lösen, da Nordirland sich zu dieser Zeit in einer aktiven Konfliktsituation befunden hat. Darüber hinaus haben wir zum Beispiel auch realisiert, dass es ein Frühwarnsystem geben muss, welches anzeigt, wenn eine Situation außer Kontrolle geraten und eskalieren könnte. Oder zum Beispiel verschiedenen Gemeinden Zugangsmöglichkeiten zueinander geschaffen, so dass sie ein gemeinsames Verständnis hatten, was gerade passiert und dass sie durch dieses Wissen einschätzen können, wenn eine Situation das Potenzial besaß, außer Kontrolle zu geraten. Wir hatten auch andere Aktivitäten, bei denen die Entwicklung des Selbstvertrauens und des Selbstwertgefühls innerhalb der Gemeinden im Vordergrund stand. Denn es ist sehr wichtig, dass wir ein positives Verhältnis zu uns selbst und unserer Identität haben, damit wir auch andere Gemeinschaften erreichen und mit ihnen in Kontakt treten können. Wir haben versucht, das auf eine inklusive Art und Weise zu erreichen, die alle miteinbezieht, denn wenn man von der Idee der ‚Shared society‘ spricht, dann beinhaltet das auch, auf die eigenen Taten zu schauen und darauf, welche Auswirkungen sie auf andere Aspekte der Gesellschaft haben. Hier ist es noch wichtig, dass es nicht nur darum geht, das Selbstwertgefühl einer Gruppe zu stärken, sondern darum, wie sie, durch Interaktion mit einer anderen Gruppe, ihr Selbstwertgefühl steigern können. Also geht es eher darum nach außen zu schauen, statt nur nach innen auf die eigene Gruppe und Gemeinschaft. Aufgrund dessen haben wir einen Leitfaden zu ‚good practice‘ entwickelt, wo sich viele Strategien und Ansätzen wiederfinden lassen. Dieser Leitfaden beinhaltet auch konkrete Beispiele aus verschiedenen Ländern, ihre Ansätze für eine ‚Shared Society‘ und welche Schritte sie für eine ‚Shared Society‘ bereits in die Wege geleitet haben. Aber das Wichtigste ist, dass es hier nicht nur um eine einzige Aktivität geht, sondern einen ganzheitlichen und kohärenten Ansatz, den wir versuchen hier einzubringen. Egal ob es um zwei Gemeinden mit jeweils 5.000 Einwohner*innen geht, die sich dafür einsetzen, dass Spannungen nicht weiter eskalieren oder ob es um ein ganzes Land geht, wie den USA, wo es notwendig ist, ein Konzept zu erarbeiten, durch das Menschen zusammenleben und sich wohlfühlen können. Generell braucht es einen mehrdimensionalen zusammenhängenden Ansatz, welcher auch die Auswirkungen unseres Handelns auf die Gesamtvision der Zukunft berücksichtigt.

Melanie: In Deutschland sehen wir uns in den letzten Jahren mit wachsender Fremdenfeindlichkeit und wachsendem Antisemitismus konfrontiert. Das können wir einerseits an den Ergebnissen der politischen Wahlen sehen, aber auch an den wachsenden Zahlen von Gewalt gegen Migrant*innen. Als wir vor einigen Jahren das Projekt zusammen mit Givat Haviva und Clem McCartney ins Leben gerufen haben, haben wir beschlossen, uns auf den Bereich Migration und Integration zu fokussieren. Darüber hinaus haben wir den Beirat für Migration und Integration der Stadt Trier, unseren praktischen Partner, gefragt, einige Projekte mit uns zu initiieren. Wir versuchen die Teilhabe und Gleichstellung von Migrant*innen in der Stadt Trier zu stärken und die Stadt Trier in ihrem Vorhaben für eine ‚Shared Society‘ zu unterstützen.

Rebecca: Ich kann mir vorstellen, dass es viele Leute gibt, die dieses Projekt unterstützen, aber auch das es einige Leute geben könnte, welche dieses Projekt nicht gutheißen und nicht unterstützen möchten. Stoßt ihr bei einem solchen Projekt auch auf Widerstand auf der politischen oder auf der gesellschaftlichen Ebene?

Melanie: Ich würde sagen, dass es von der politischen Seite keinen Widerstand gibt. Ich denke, dass es im Moment noch allgemeiner Konsens ist, dass es etwas Positives ist, die Idee einer ‚Shared Society‘ in Deutschland zu unterstützen und sich dafür einzusetzen. Natürlich gibt es die AfD, welche in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen und vermehrt Unterstützung erfahren hat. Aber damit haben wir in unserem Projekt im Moment noch keine Probleme. Generell haben wir nicht das Problem, dass sich Menschen gegen die Idee oder das Konzept der ‚Shared Society‘ stellen. Aber im Moment ist es schwierig, Leute zu finden, die sich stärker für eine ‚Shared Society‘ und das Projekt engagieren. Deshalb denke ich, dass es auf der politischen Ebene im Moment eher neutral ist, aber es ist schwer, Leute zu finden, die sich aktiv im Projekt engagieren möchten.

Rebecca: Meine letzte Frage für heute geht an euch alle. Clem erwähnte, dass die meisten Projekte umgesetzt werden, ohne konkret den Begriff der ‚Shared Society‘ zu nutzen, dass sie aber alle auf das gleiche Ziel hinarbeiten. Wie könnte also die Gesellschaft im Allgemeinen oder vielleicht Organisationen, in denen unsere Zuhörer*innen involviert sind, Akteur*innen unterstützen, die sich für eine ‚Shared Society‘ einsetzen? Auch um deren Friedenspotentiale zu fördern. Also wie können sie diese Projekte in ihrem Ziel einer stärkeren ‚Shared Society‘ in ihrem jeweiligen Kontext unterstützen?

Clem: Ja, ich glaube, dass in meinem eigenen Land und in vielen anderen Ländern viele Aktivitäten stattfinden, von denen ich inzwischen sagen würde, dass sie die Beziehungen zwischen den Gruppen und die Beziehungen zwischen den Gemeinschaften positiv beeinflussen wollen, aber dabei ist das Problem, dass sie die generellen Ungleichgewichte, die in der Gesellschaft bestehen und die besonders für die marginalisierten Gruppen wichtig sind, nicht im Blick haben. Und die weniger marginalisierte, beziehungsweise andere, Gemeinschaft sieht dann oft kein Problem, da sie nicht betroffen sind. Wie Ran vorhin sagte, gibt es Leute, die sagen: „Wäre es nicht schön, wenn die anderen Leute einfach denselben Weg wie wir gehen könnten und die Dinge so machen würden, wie wir sie machen“. Das ist einer der wichtigsten Ansatzpunkte für Veränderung, deshalb würde ich sagen, dass man oder wir Projekte und Menschen, welche sich für eine ‚Shared Society‘ einsetzen, eher passiv unterstützen können und ihnen dabei helfen können zu erkennen, dass sie die größeren und schwierigeren Themen auch angehen müssen. Die Menschen an vorderster Front dieser Konflikte sind oft nur allzu bereit, sich ihnen zu stellen und sie anzugehen. Aber viele andere Menschen wünschen sich einfach nur ein ruhiges Leben und wollen sich nicht mit komplexen und schwierigen Themen befassen. Ich glaube, es ist auch sehr wichtig, dass wir die Politiker*innen mit einbeziehen, denn sie haben die Fähigkeit, die Dinge, über die wir sprechen, auch zu ermöglichen. Ebenso haben sie die Möglichkeit, in einer Weise zu handeln, die unsere Gesellschaft aber auch weiter teilt und polarisiert. Man kann oft beobachten, dass es Menschen gibt, in deren Interesse es ist, entweder der politischen Macht wegen oder um ihre eigene Gruppe oder Gemeinschaft zu bevorzugen, in „wir“ und „die“ Kategorien denken und handeln. Und wir tappen generell auch leicht in diese Falle, uns auch auf diese Art von Spaltung einzulassen. Deshalb erachte ich es für sehr wichtig, dass wir alle, denen die Beziehungen zwischen Gruppen und Gemeinschaften ein wichtiges Anliegen sind, uns auch darauf konzentrieren, wie wir uns auch auf der politischen Ebene dafür einsetzen können, nicht nur auf der Ebene der Gemeinschaften beziehungsweise zwischen Gemeinschaften. Natürlich spiegeln die Politiker*innen die Gemeinschaft und die Gemeinschaften die Politik wider. Deshalb müssen wir an beidem arbeiten.

Ran: Ich würde gerne auf deine Frage bezüglich unserer gegenwärtigen Situation eingehen. Natürlich sind dies herausfordernde Zeiten, in denen uns die Covid-Pandemie überall auf der Welt trifft und ich denke es ist ein Anfang, die Hand zu heben und zu fragen: „Ist unsere Gesellschaft widerstandsfähig?“. Belastbarkeit oder Resilienz ist ein Begriff, der heutzutage sehr populär ist und er trifft ziemlich genau die Stärke einer Gesellschaft, die mit der aktuellen Situation relativ gut zurechtkommt. Hier bin ich der Meinung, dass dies viele Aspekte der Resilienz betrifft und dass soziale Resilienz aus verschiedenen Gründen thematisiert werden kann und muss. Deshalb möchte ich den Begriff des sozialen Zusammenhalts hervorheben und die Bedeutung der Entwicklung des sozialen Zusammenhalts als eine wesentliche Komponente oder besser gesagt, als eine notwendige Voraussetzung für eine resiliente Gesellschaft betonen. Wenn wir die Tatsache akzeptieren, dass sozialer Zusammenhalt und soziales Kapital das sind, was nötig ist, um eine Gesellschaft resilient zu machen, dann können wir einmal innehalten und uns fragen: „Wo fehlt uns diese Art von Zusammenhalt in der Gesellschaft in diesen schwierigen Zeiten?“ In Israel zum Beispiel, haben wir vor nicht allzu langer Zeit im April, während des ersten Covid-19 Lockdowns, eine Umfrage durchgeführt. Wir wollten herausfinden, wie es um die Resilienz der Menschen auf persönlicher, kommunaler, regionaler und nationaler Ebene steht, um ihre Widerstandsfähigkeit. Und wir sahen dort auch das Paradox, dass die Leute sagten, sie denken, dass sie widerstandsfähiger wären, wenn die Gesellschaft inklusiver wäre und mehrere Gruppen miteinbezieht, als nur benachbarte Gemeinschaften oder Gruppen innerhalb einer Gemeinschaft zu vernetzen. Sie sagten, dass sie sich damit wohler und sicherer fühlen würden, aber gleichzeitig sagten sie auch, dass sie nicht glauben, es sei möglich. Wenn sie sich die derzeitigen sozialen Bedingungen anschauen, dann sehen sie eher die Unfähigkeit oder Unmöglichkeit eines solchen Zusammenhalts. Bei solchen Aussagen, sollten bei uns die Warnlichter angehen. Ich wurde auch ins israelische Parlament eingeladen, um über den Umgang mit dem Coronavirus zu sprechen. Dort habe ich erwähnt, sehr vorsichtig, dass die Menschen Wünsche nach mehr sozialem Zusammenhalt und besseren Beziehungen zwischen den Gruppen geäußert haben und sie sich durch mehr Zusammenhalt wahrscheinlich auch besser und zufriedener fühlen würden und sie gleichzeitig sagen, sie glauben, dass es unmöglich ist oder es im Moment nicht möglich ist. Und hier geht es nicht um Maßnahmen, die gleich morgen früh ergriffen werden müssen. Offensichtlich gibt es mit der derzeitigen Covid-19 Lage andere Dinge, die wichtiger sind, aber wir sollten uns in leichteren Zeiten, wenn die Covid-19 Pandemie überstanden ist, daran erinnern und wirklich darüber nachdenken, wie wir uns als Gesellschaft auf weitere Extremsituationen vorbereiten können, um den nächsten Krisen widerstandsfähiger und resilienter begegnen zu können und um besser mit ihnen fertig zu werden. Der Standpunkt, von dem ich für den Aufbau einer gemeinsamen Gesellschaft ausgehe, ist jener, dass wir sicherstellen müssen, diese Kohärenz auf kommunaler, interkommunaler, regionaler und auf nationaler Ebene zu entwickeln. Und es gibt so viel, was getan werden kann. Wir haben ein langes Dokument mit praktischen Empfehlungen verfasst. Wir hoffen, dass diese Empfehlungen Menschen dazu bringt zuzuhören und diese Dinge nach Überwindung der Krise umzusetzen.

Clem: Wenn ich noch etwas einbringen könnte? Ran hat mich gerade im Zusammenhang mit der Covid-Pandemie darauf gebracht, dass die Gesellschaften, die die größten Schwierigkeiten hatten, einen kohärenten Ansatz zur Bekämpfung des Virus zu finden, diejenigen sind, die sich am meisten durch eine ‚ich-ich-ich-Haltung ‘, eine libertäre Haltung auszeichnen. “Ich will keine Maske tragen. Ich will nicht von anderen Menschen Abstand halten. Ich will tun, was ich tun will”. In einer solchen Gesellschaft ist man einander nicht verpflichtet. Und doch funktioniert eine Gesellschaft nicht, ohne gegenseitige Verpflichtungen, man ist einander verpflichtet in einer gemeinsamen Gesellschaft. Und ich denke, dass Covid uns daher die Chance bietet, die Schwächen einer individualistischen Gesellschaft aufzuzeigen, und zwar anhand von Gesellschaften in denen Menschen bereit sind für das Gemeinwohl zusammenzuarbeiten.

Ran: Ich kann nur zustimmen und würde sagen, dass die Covid-Pandemie uns hilft, den Begriff der Interdependenz vor Ort zu verwirklichen. Wir haben schon einmal über das Konzept der Interdependenz gesprochen, und hier haben wir ein sehr konkretes, existenzielles Beispiel, keine Theorie, keine abstrakten Konzepte, sondern eher, wie es ist, wenn die Nachbargemeinschaft, die Nachbargruppe sich nicht an die Anweisungen hält und keine Masken tragen möchten und sie dadurch mich oder andere in Gefahr bringen. Und das ist eine systemische Perspektive, eine ganzheitliche Perspektive in Bewegung, denn das eigene Handeln kann Welleneffekte auslösen und Auswirkungen auf andere haben. Und leider ist die israelische Gesellschaft eine sehr zersplitterte Gesellschaft, welche weit davon entfernt ist, eine ‚Shared Society‘ zu sein. Deshalb glaube ich, dass das der Hauptgrund ist, warum wir uns in einer so schwierigen Lage in der Covid-Pandemie befinden, wenn man sich die Zahl der infizierten Menschen pro Millionen Einwohner*innen in Israel betrachtet.

Rebecca: Melanie, möchtest du noch etwas hinzufügen?

Melanie: Ja, ich glaube, für uns in der Friedensakademie ist es im Moment am wichtigsten, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass wir in Deutschland mit einer wachsenden Polarisierung der Gesellschaft konfrontiert sind. Gestern habe ich einen Workshop mit drei Schulklassen und einigen Lehrer*innen durchgeführt und ich habe den Jugendlichen die Karte des Konfliktbarometers gezeigt. Auf dieser Karte ist jedes Land eingefärbt, von grau bis schwarz, ja nachdem ob und wie viele politische Konflikte oder Kriege dort stattfinden. Und ich glaube, fast jede und jeder in diesem Klassenzimmer war ziemlich überrascht, dass Deutschland nicht grau war. Sie waren überrascht, weil sie sich nicht bewusst waren, dass es in Deutschland im Moment viel rechte Gewalt und auch strukturelle Gewalt gibt. Ich denke, das Wichtigste ist jetzt also, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass da etwas im Gange ist und dass wir ein Projekt wie ‚Shared Society‘ brauchen. Hier denke ich, müssen wir jetzt mit unserer Arbeit beginnen.

Rebecca: Ich denke, das ist ein gutes Schlusswort für unsere heutige Episode. Vielen Dank, Melanie, dass du die Episode mit mir moderiert hast. Und ich danke euch, Clem und Ran, dass ihr heute unsere Gäste wart.

Ran: Ich danke euch!

Clem: Nichts zu danken, ich danke euch!

 

Mehr Informationen zur Shared Society und unseren Interviewpartner*innen finden Sie auf der Website der Shared Society.