Sexuelle Gewalt im bewaffneten Konflikt: Welchen Einfluss hat die Präsenz weiblicher Kombattantinnen?

Von Viktoria Reisch

Sexuelle Gewalt gegen Frauen in bewaffneten Konflikten stellt ein kontroverses und umstrittenes Thema dar. Sie wird oftmals als omnipräsent wahrgenommen, wohingegen es durchaus Fälle gibt, wo dieses Phänomen abwesend ist. In Anbetracht dessen stellt sich die Frage, welche Faktoren Einfluss auf das Auftreten von sexueller Gewalt gegen die weibliche Zivilbevölkerung nehmen. Als ein möglicher Erklärungsfaktor wird zuweilen die Anwesenheit weiblicher Kämpferinnen genannt. Im Folgenden wird diese These anhand der Fallbeispiele der kolumbianischen FARC-EP und der kurdischen YPG/YPJ näher diskutiert.

Die Auswirkungen von bewaffneten Konflikten auf Frauen sind weitreichend und vielfältig: Lebensmittel- und Ressourcenknappheit, mangelnde medizinische Versorgung und psychische Belastungen sowie oftmals Zwangsvertreibungen und das Erleben sexueller Gewalt. Die Frage, wann und warum bewaffnete Gruppen sexuelle Gewalt gegen Zivilistinnen einsetzen und viel mehr wann und warum sie das nicht tun, ist vieldiskutiert und wird in der entsprechenden Literatur sehr unterschiedlich beantwortet[1]. Laut der US-amerikanischen Politikwissenschaftlerin Dara Kay Cohen gab es in 81% der von ihr untersuchten 91 Bürger*innenkriege zwischen 1980 und 2012 Berichte von Fällen sexueller Gewalt. Sie betont, dass diese in allen Konfliktregionen und unabhängig vom Konfliktgegenstand (wie bspw. Territorium, Autonomie, Ressourcen etc.) vorkommen, allerdings sind durchaus Variationen zu erkennen. Zum einen unterscheidet sich das Ausmaß, beispielsweise wurden in 18 Bürger*innenkriegen nur vereinzelte Übergriffe registriert. Zum anderen fallen innerhalb der beobachteten Konflikte Abweichungen zwischen den beteiligten Gruppen auf. Wendet eine Konfliktpartei diese Gewaltform an, wird diese nicht notwendigerweise von der oder den anderen übernommen[2]. Daran zeigt sich, dass sexuelle Gewalt[3] in bewaffneten Konflikten ein weitverbreitetes, jedoch nicht allgegenwärtiges Phänomen ist.

Angesichts der Tatsache, dass es eine nicht geringe Zahl an bewaffneten Gruppen gibt, die in Konfliktsituationen keine sexuelle Gewalt anwenden, betont Elizabeth Wood, Professorin für Politikwissenschaft in Yale, dass Vergewaltigung, Übergriffe oder Zwangssterilisation nicht unvermeidlich sind. Es gibt demnach keine empirische Evidenz für einen Automatismus von sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten. Umso wichtiger ist es zu untersuchen, welche Faktoren die Wahrscheinlichkeit verringern, dass bewaffnete Akteur*innen sexuelle Gewalt gegen Zivilistinnen anwenden. Dies soll Aufschlüsse für Handlungsmöglichkeiten geben und helfen, Policies zum Schutz der Bürgerinnen zu entwickeln[4].

Mögliche Faktoren

In der Suche nach Gründen stellt die These, dass Frauen als Teil einer bewaffneten Gruppe einen relevanten Einfluss auf die Abwesenheit sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten haben, einen Erklärungsversuch dar[5]. Autor*innen, die sich diesem Argument bedienen, ziehen dafür unterschiedliche Annahmen und Subthesen heran. Ceyda Kuloğlu, Wissenschaftlerin an der Başkent Universität in Ankara, ist der Ansicht, dass diese Frauen sensibilisiert für Genderthemen sein und einen bestimmten Prozentsatz in Relation zu den männlichen Mitgliedern überschreiten müssten („critical mass“)[6]. Ist dieser Prozentsatz erreicht, würde nicht nur die Anzahl der Fälle sexueller Gewalt gegen Zivilistinnen zurückgehen, sondern auch innerhalb der bewaffneten Gruppe. Die Annahme dabei ist, dass bei einem starken Ungleichgewicht der Geschlechter – in diesem Fall Männer – das zahlenmäßig dominante Geschlecht eher in klassische Rollenbilder verfällt.

Die Substitutionsthese[7] vertritt die Idee, dass männliche Kombattanten zur Anwendung sexueller Gewalt neigen, wenn sie keine regelmäßige sexuelle Befriedung haben – gleich ob durch Kontakt zu Prostituierten, Nahestehenden (Paarbeziehung, Mitkämpferinnen o. Ä.) oder Zivilistinnen im gegenseitigen Einverständnis. Die Vertreter*innen dieser These argumentieren unter anderem mit der Korrelation zwischen militärischer Präsenz und der Entwicklung von Prostitution[8]. Neben anderen berichtet Wood[9] über Aussagen vonseiten militärischen Personals und Offizieren, die das Verlangen männlicher Soldaten nach sexuellem Kontakt und dessen Befriedigung als Thema darstellen, das die Soldaten beschäftigt und maßgeblich in ihrem Handeln beeinflusst. Diese würden argumentieren, wenn nun Frauen Teil der eigenen Gruppe und sexuelle Beziehungen in- und außerhalb der Gruppe möglich sind, das „Ausweichen“ auf Außenstehende unnötig wird. Hier muss betont werden, dass sich solche Theorien meist gängiger (heteronormativer) Gender-Stereotype bedienen und gesellschaftliche Geschlechterrollen auf bewaffnete Gruppen in Konflikten übertragen. Zudem bleibt das bewusste Einsetzen von sexueller Gewalt als Kriegsstrategie völlig unberücksichtigt.

Andere Wissenschaftler*innen[10] argumentieren, dass Frauen generell vor der Anwendung sexueller Gewalt zurückschrecken und sie grundsätzlich kein Teil ihres Gewaltrepertoires ist. Dieses Argument birgt die Gefahr, in klassische Genderstereotype zurückzufallen. Allerdings weisen etwa Eriksson Baaz und Stern[11] sowie Reed et. al.[12] auf Variationen bei männlichen und weiblichen Täter*innen, was ihre Beweggründe, den Kontext und die Konsequenzen von sexueller Gewaltanwendung angeht, hin. Sie begründen dies damit, dass Männer von anderen geschlechtsspezifischen Normen auf gesellschaftlicher Ebene beeinflusst werden als Frauen und deshalb die Neigung zu dieser Form von Gewalt zwischen Geschlechtern divergiert. Allerdings ist nicht geklärt, ob die hier wirksamen Effekte gesellschaftlicher Einflüsse auch in dieser Form für bewaffnete Gruppen übernommen werden können.

Ein weiterer Erklärungsansatz ist das sogenannte male bonding[13], was die Herstellung von kollegialen Beziehungen unter Männern mittels spezifischer Trainingspraktiken bezeichnet, um Kameradschaft zu stärken. Zwar fördert nicht das Phänomen an sich die Anwendung sexueller Gewalt, allerdings die Mechanismen, die dabei eingesetzt werden. Männliche, heterosexuelle Identität gekoppelt mit männlicher Überlegenheit und Macht spiele eine wichtige Rolle, um eine bestimmte Form von Männlichkeit, soldatischer Männlichkeit, die in bewaffneten Konflikten als wichtige Charaktereigenschaft gesehen wird, zu produzieren[14].

Weibliche Kämpferinnen in Kolumbien und Nordsyrien

Um die eingangs aufgestellte These, dass Frauen als Teil einer bewaffneten Gruppe einen relevanten Einfluss auf die Abwesenheit sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten haben, zu diskutieren, ziehe ich als Fallbeispiele zwei bewaffnete Gruppen heran, die beide eine signifikant hohe Anzahl weiblicher Kämpferinnen aufweisen: die kolumbianische Guerilla FARC-EP (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee) sowie die die kurdische Miliz YPG/YPJ (Volksverteidigungseinheiten/Frauenverteidigungseinheiten).

Die FARC-EP ging in den 1960er Jahren aus kommunistischen Guerillabewegungen im ländlichen Gebiet hervor und war bis zur Unterzeichnung des Friedensvertrags mit der kolumbianischen Regierung 2016 eine der einflussreichsten Akteurinnen im Jahrzehnte andauernden Bürger*innenkrieg. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie weniger als 6.000 Mitglieder[15], nach Höchstzahlen von 10.000 – 15.000 im Jahr 2008[16]. Die YPG/YPJ gründete sich im Oktober 2011 im Kontext des syrischen Bürger*innenkriegs mit der Zielsetzung, die vorwiegend kurdisch bewohnten Gebiete Syriens zu verteidigen. Ihr wird eine enge Beziehung zur türkischen PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) und der syrischen PYD (Partei der demokratischen Region) nachgesagt, nachdem die YPG/YPJ auch als Streitkraft der Demokratischen Föderation Nordsyriens/Rojava gilt. 2017 wurde ihre Truppenstärke auf rund 50.000 Kämpfer*innen geschätzt.

Auf Basis von Berichten des Internationalen Strafgerichtshofs, des UN-Menschenrechtsrats und Amnesty International[17] zeigt sich das Bild, dass es eindeutig Fälle sexueller Gewalt vonseiten der FARC-EP gab, bislang jedoch keine Berichte von der Beteiligung der YPG/YPJ an solchen Praktiken vorliegen.

Werden die oben dargestellten Subthesen auf die einzelnen bewaffneten Gruppen angewendet, zeigt sich ein anderes Bild, als die hier diskutierte These vermuten lässt: Die FARC-EP erfüllt mehr Kriterien, die eine geringere Wahrscheinlichkeit der Anwendung sexueller Gewalt nahelegen, als die YPG/YPJ. Auch wenn beide einen hohen Frauenanteil aufweisen (FARC-EP rund 40%, YPG/YPJ etwa ein Drittel), weist die YPG/YPJ mehr „Risikofaktoren“ auf. Beispielsweise werden bei der FARC-EP die Kämpfer und Kämpferinnen gemeinsam ausgebildet und trainiert, wohingegen die YPG/YPJ ihre Mitglieder in geschlechtergetrennten Einheiten trainiert. Hier muss darauf hingewiesen werden, dass die kurdische Miliz grundsätzlich in eine getrennte Männereinheit (YPG) und Fraueneinheit (YPJ) gegliedert ist, in der FARC-EP sind die Kombattantinnen Teil der regulären Einheiten und leben in den gleichen Camps. Des Weiteren sind intime Paarbeziehungen zwischen FARC-EP-Mitgliedern erlaubt, während diese zwischen den Kämpfer*innen der YPG/YPJ streng verboten sind, wie aus dem Bericht einer Kämpferin hervorgeht[18].

Fazit

Wie die Diskussion der Fallbeispiele zwischen der kolumbianischen Guerilla und der kurdischen Miliz zeigt, weist die Präsenz von weiblichen Kämpferinnen an sich ein geringes Erklärungspotential für die Abwesenheit sexueller Gewalt gegen Zivilist*innen auf. Denn folgt man den hervorgebrachten Annahmen, wäre es wahrscheinlicher, dass die YPG/YPJ auf dieses Gewaltmittel zurückgreift. Allerdings zeigt sich bei den ausgewählten Fällen das Gegenteil. Dementsprechend sind Theorien, die auf Basis der reinen Anwesenheit von Frauen argumentieren, zum einen wenig erkenntnisreich, zum anderen oftmals von starken Gender-Stereotypen durchzogen. Vielversprechender scheinen allerdings weitere Untersuchungen bezüglich Fragen darüber, welche Funktionen Frauen in der jeweiligen bewaffneten Gruppe übernehmen und wie sich damit einhergehend ihr Mitspracherecht und ihr Einfluss auf das Handeln und die Ausrichtung der Gruppe gestaltet. Elisabeth Wood[19] schlägt darüber hinaus vor, dass ein größerer Fokus auf die hierarchische Struktur innerhalb der Gruppe sowie die zugrundeliegende Ideologie und den (gesamtgesellschaftlichen) sozio-politischen Kontext gelegt werden muss. Zudem wird deutlich, dass es einer stärkeren Berücksichtigung von Gender-Stereotypen sowie der Sozialisierung von Kombattant*innen bedarf.

[1] Für eine Auswahl: Cohen, D. K. (2016): Rape During Civil War. Ithaca, NY. Kirby, P. (2013): How is rape a weapon of war? Feminist International Relations, Modes of Critical Explanation and the Study of Wartime Sexual Violence. European Journal of International Relations 19 (4), 797–821. Eriksson Baaz, M./Stern, M. (2009): Why do Soldiers Rape? Masculinity, Violence, and Sexuality in the Armed Forces in the Congo (DRC), International Studies Quarterly 53 (2), 495–518. Wood, E. J. (2009): Armed Groups and Sexual Violence. When Is Wartime Rape Rare?, Politics & Society 37 (1), 131–162.

[2] Cohen, D. K. (2016), 73.

[3] Für die Definition von sexueller Gewalt siehe: International Criminal Court (2000): Elements of Crimes, U.N. Doc. PCNICC/2000/1/Add.2 Article 7 (1) (g). Verfügbar unter: https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N00/724/27/PDF/N0072427.pdf?OpenElement [16.06.2019]

[4] Wood, E. J. (2009).

[5] Wood, E. J. (2009), 135-136.

[6] Kuloğlu, C. (2008): Violence Against Women in Conflict Zones. In: Carreiras, H. & Kümmel, G. (Hrsg.): Women in the Military and in Armed Conflict. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 227–238.

[7] Enloe, C. H. (2000): Maneuvers. The International Politics of Militarizing Women’s Lives. University of California Press, Berkeley, Calif, S. 111. Cohen, D. K. (2016). Wood, E. J. (2009): 135.

[8] Enloe, C. H. (2000),111.

[9] Wood, E. J. (2009), 135.

[10] Ebd.; Reed, E./Gupta, J./Silverman, J. G. (2014): Understanding Sexual Violence Perpetration. JAMA Pediatr., 168(6), 581-582.

[11] Eriksson Baaz, M./Stern M. (2018): Curious erasures. The Sexual in Wartime Sexual Violence, International Feminist Journal of Politics, 20:3, 295-314,

[12] Reed, E./Gupta, J./Silverman, J. G. (2014).

[13] Tiger, L. (2004): Men in Groups. Taylor and Francis, Somerset.

[14] Cockburn, C. (2004): The Continuum of Violence. A Gender Perspective on War and Peace. In: Giles, W. M./ Hyndman, J. (Hrsg.): Sites of violence: Gender and conflict zones. University of California Press, Berkeley, 24–44.

[15] Heidelberg Institute for International Conflict Research (2017): Conflict Barometer 2016, Heidelberg.

[16] Uppsala Conflict Data Program: FARC. http://ucdp.uu.se/#actor/7438 [28.08.2019].

[17] Siehe beispielsweise für Kolumbien: International Criminal Court (2012): Situation in Colombia: Interim Report. Verfügbar unter: https://www.icc-cpi.int/NR/rdonlyres/3D3055BD-16E2-4C83-BA85-35BCFD2A7922/285102/OTPCOLOMBIAPublicInterimReportNovember2012.pdf [23.09.2018] oder Amnesty International (2017): Amnesty International (AI) (2004) Colombia. Cuerpos Marcados, Crímenes Silenciados.Violencia Sexual contra las Mujeres en el Marco del Conflicto Armado. Editorial Amnistía Internacional, Madrid, verfügbar unter: https://www.amnesty.org/es/documents/AMR23/040/2004/es/ [31.08.2019]; siehe beispielsweise für Syrien die Berichte der Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic verfübar unter: https://www.ohchr.org/EN/HRBodies/HRC/IICISyria/Pages/Documentation.aspx [31.08.2019].

[18] Buckler, J.-B. (2016): Ein deutscher YPG-Kämpfer erzählt, wie der Krieg gegen den IS von innen aussieht. https://www.vice.com/de/article/8gbj5v/ein-deutscher-ypg-kaempfererzaehlt-wie-der-krieg-gegen-den-is-von-innen-aussieht-885 [25.09.2018].

[19] Wood, E. J. (2009).

 

 

Über die Autor*innen

Viktoria Reisch studiert Inter-nationale Studien/ Friedens- und Konfliktforschung an der Goethe-Universität in Frankfurt mit einem Schwerpunkt auf Südamerika,  Indigene und Gender Studies. Zuletzt hat sie ein Praktikum beim Klima-Bündnis, einem europäischen Städtenetzwerke mit Sitz in Frankfurt, gemacht. Aktuell ist sie Praktikantin bei der Heinrich-Böll-Stiftung Cono Sur in Santiago und forscht für ihre Masterarbeit.