Vom Opfer zur Fürsorgenden - Geschlechterrollen in der globalen Agenda „Frauen, Frieden und Sicherheit“ zu Zeiten der COVID-19 Pandemie

von Dr. Manuela Scheuermann, JMU Würzburg, M.Scheuermann@uni-wuerzburg.de 

Die COVID-19 Pandemie visualisiert bestehende gesellschaftspolitische Missstände wie unter einem Brennglas. Dies trifft vor allem auf Staaten zu, die bereits vor der Pandemie von Instabilität und gewaltsamen Konflikten gekennzeichnet waren. Der Blogbeitrag nimmt diese Beobachtung zum Anlass, um sich stärker mit der Situation und Rolle von Frauen in diesen instabilen Regionen während der COVID-19 Pandemie auseinanderzusetzen. Als normativer Hintergrund des Beitrags dient die globale Agenda für Frauen, Frieden und Sicherheit (FFS), die sich seit mehr als 20 Jahren mit der Situation und der Rolle von Frauen in Konflikten beschäftigt. Die globale Agenda betont, dass Frauen in instabilen Staaten oder Bürgerkriegsländern sexualisierter und gender-basierter Gewalt ausgesetzt sind, dass Frauenrechte nicht als Menschenrechte akzeptiert werden und Frauen in Konfliktlösung und Wiederaufbau eine, wenn überhaupt, nur marginale Rolle spielen. Diesen Defiziten will die Agenda, die inzwischen zehn Resolutionen des Sicherheitsrats umfasst und in über 80 nationalen Aktionsplänen ausdifferenziert wird, entgegenwirken. 

Es steht nun zu befürchten, dass positive Entwicklungen der FFS durch die COVID-19 Pandemie und ihre Folgen ausgebremst werden. Geschlechterstereotype, so die Annahme dieses Beitrags, könnten sich aufgrund der Ausnahmesituation der Pandemie mittel- und langfristig wieder verstärken. Im Folgenden werden spezifisch weiblich perzipierte Stereotype herausgearbeitet und diskutiert. Die in der globalen Agenda dominierenden weiblichen Rollenbilder werden vorgestellt und mögliche Veränderungen in Folge der Pandemie identifiziert. Der Beitrag kulminiert in der These, dass wir den als klassisch weiblich perzipierten Stereotyp der fürsorgenden Frau, den die Pandemie wieder hochgespült hat, stärker in den Blick nehmen sollten. Sicherlich gibt diese Beobachtung Anlass zur Sorge in Erwartung eines tiefen antifeministischen Rückfalls, allerdings könnte man, so die Argumentation des Beitrags, den Stereotyp tatsächlich auch strategisch für feministische Ziele nutzen. 

Rollen in der globalen Agenda für „Frauen, Frieden und Sicherheit“ 

In der feministischen Friedensforschung wird vor allem auf einen deutlichen geschlechtsspezifischen Rollenzusammenhang hingewiesen: Frauen werden häufig als hilfs- und schutzbedürftig konnotiert (Tickner 2019). Zugleich wird ihnen die Rolle der Friedlichen zugesprochen. Diese Rolle steht mit der Women-Peace-Hypothesis im Zusammenhang, die die Korrelation zwischen Frausein und Friedlich- bzw. Kompromissbereitsein untersucht (Maoz 2011). Feministische Friedensforschung jedoch hat das Ziel, genau solche geschlechtsstereotype Rollenzuschreibungen einer friedliebenden, kommunikativen, fürsorgenden Frau zu überkommen und – in letzter Konsequenz – Rollen zu ent-gendern. In den zehn Resolutionen der FFS-Agenda wird dieses Ansinnen in Teilen deutlich. Es wird beispielsweise betont, dass allen Personen geschlechtsunabhängig alle Tätigkeitsfelder aus dem Frieden&Sicherheit-Kontinuum offen stünden (Scheuermann/Zürn 2020). Es werden Frauen als Vorbilder vorgestellt, die sich ausdrücklich über ihre Funktion und nicht über ihr Geschlecht definiert wissen wollen. 

Allerdings finden sich trotzdem noch stereotype Zuschreibungen in den Resolutionstexten. Aus den vier Säulen der Agenda „Participation, Protection, Prevention, Relief & Recovery“ können zwei dominierende Rollen herausgefiltert werden: 

1. Das Opfer: die Frau ist Opfer von unmittelbarer sowie struktureller, sexualisierter und gender-basierter Gewalt. In dieser Rolle des Opfers ist sie passiv. In jüngster Zeit, insbesondere in Resolution 2467 (2019), verschiebt sich die Darstellung jedoch in Richtung der Überlebenden („survivor-centred approach“). Die Überlebende ist eine aktive, selbstermächtigende Rolle, die beispielsweise miteinschließt, dass männliche Täter zur Rechenschaft gezogen werden müssen und Überlebende den Anspruch auf reproduktive Gesundheitsfürsorge haben. 

2. Die Partizipierende: die Frau als Teilnehmende, die bei der Friedenssicherung und im Peacebuilding sowohl mitarbeitend als auch führend agiert. Jedoch war es in UN-Missionen lange an der Tagesordnung, dass Frauen „typisch weibliche“ Aufgaben verrichteten. Als Blauhelm-Soldatinnen waren sie beispielweise im Sanitätsdienst, in der Logistik oder im Versorgungsdienst eingesetzt, als Polizistinnen und zivile Mitarbeiterinnen sollten sie die Kommunikation zur weiblichen Bevölkerung herstellen. Gerade hier schwang auch immer stark die Rolle der Fürsorgenden mit, auch wenn diese in den Resolutionen der FFS-Agenda nie ausdrücklich thematisiert wurde. Erst seit wenigen Jahren lässt sich eine vorsichtige und bisher allenfalls punktuelle Trendumkehr unter dem Begriff der „meaningful participation“ erkennen. Frauen sind, so die Bedeutung dieser belangvollen Teilnahme, selbstverständlicher und essentieller, zugleich aber auch gleichberechtigter Bestandteil von UN-Bemühungen. Frauen sind Teil von bewaffneten Nachtpatrouillen, sie sind Hubschrauberpilotinnen oder Kommandeurinnen von UN-Missionen. Sie sind als Sonderbeauftragte der politische Arm des Generalsekretärs im Feld und führen Verhandlungen mit Warlords. Allerdings sind es bisher nur die Ticknerschen „occasional heads“ (Tickner 1992), die wir beobachten können. Zugleich erfüllen Frauen weiterhin und größtenteils die als weiblich perzipierten Funktionen einer Krankenpflegerin, einer Kommunikatorin oder Lehrerin im UN-Einsatz. 

Rollen in der COVID-19 Pandemie

Daten von UN Women und der Weltgesundheitsorganisation, die die Situation von Frauen während der Corona-Krise statistisch erfassen, legen nun nahe, dass die multiple Krise nicht nur kurzfristige, sondern auch langfristige Gender-Effekte verursachen könnte. Diese würden sich auch auf Rollenzuschreibungen im Kontext der globalen Agenda FFS auswirken. Derzeit sind vor allem drei rollenspezifische Entwicklungen in Folge der Pandemie zu beobachten: 1) ein Pushback ins Private, in die Rolle des Opfers und der Schutzbedürftigen; 2) eine damit verbundene Abnahme belangvoller Teilhabe von Frauen, auch von einst aktiven Frauenrechtsgruppen o.ä.; 3) eine sich verstärkende Rolle der Fürsorgenden, die in der FFS-Agenda nur indirekt impliziert wird. 

Schutzbedürftig und privat 

Seit Beginn der COVID-19 Pandemie zeigt sich insbesondere in fragilen Staaten und unabhängig von der tatsächlichen Durchseuchung mit dem Corona-Virus, dass Frauen zunehmend geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt sind. Dies hat unter anderem mit Lockdowns, dem dadurch erzwungenen Rückzug ins Private und dem Verlust des Arbeitsplatzes zu tun. UN Women stuft diese Situation deshalb als „Shadow Pandemic“ ein (UN Women 2020). Da die Gewalt vor allem junge Frauen trifft, wird von einer Zunahme der Teenie-Schwangerschaften ausgegangen. Auch eine höhere Müttersterblichkeit – analog zu den Daten der jüngsten Ebola-Ausbrüche – wird erwartet. Die Rolle des schutzlosen Opfers, das die globale Agenda mit dem Konzept der Überlebenden hinter sich lassen möchte, drängt angesichts dieser Situation wieder in den Vordergrund. Da Frauen einmal verlorene Erwerbstätigkeit und einmal verlorene Freiheit gerade in fragilen und von Gewaltkonflikten beherrschten Staaten sehr schwer zurückgewinnen, könnte die COVID-19 Pandemie langfristige Folgen für Frauen in dieser Hinsicht haben. 

Belangvolle Teilhabe kaum möglich 

Selbstbestimmtes, aktives, gesellschaftspolitisch teilhabendes weibliches Leben ist derzeit kaum möglich. Es ist nicht überraschend, dass selbst in der nördlichen Hemisphäre Frauen als COVID-19 Krisenmanagerinnen rar gesät sind. Die Corona-Task-Forces der Welt waren gerade zu Beginn der Pandemie fast ausschließlich männlich besetzt. Tonangebende Ressorts wie die Gesundheitsministerien sind zu 70 Prozent männlich geführt (WPL 2021). Bis auf wenige Ausnahmen trägt das politische Management der Corona-Pandemie weltweit ein männliches Gesicht. Doch die Situation in Bürgerkriegsländern ist um ein Vielfaches desaströser. Bereits vor der Pandemie war an Geschlechterparität bei der belangvollen Teilnahme an Konfliktlösung und Wiederaufbau nicht zu denken. Nur drei Prozent der Konfliktmediator*innen und vier Prozent der UN-Blauhelme waren weiblich (Council on Foreign Relations 2020). Mit der Pandemie zogen die Vereinten Nationen und NGOs ihre Mitarbeiter*innen ab oder isolierten sie, um sie vor Ansteckung zu schützen. Sie froren Gelder ein und legten Netzwerke auf Eis. Das betrifft auch die vielen weiblichen friedensaktivistischen Gruppen, die aufgrund der kritischen Gesamtsituation in ihren Aktionen gehemmt sind. Weibliche lokale „First Responder“, also „Kräfte der ersten Stunde“ in Notsituationen, waren und sind im Lockdown nicht mehr unterwegs. Für die FFS-Agenda könnte dies bedeuten, dass sich alte Geschlechterrollen (der Mann führt und gestaltet im öffentlichen Raum, die Frau agiert im Privaten) verfestigen könnten, bevor sie nachhaltig aufgebrochen wurden. 

Die Fürsorgende als strategische Rolle? 

Bisher wurden die Schattenseiten der Pandemie beleuchtet, die einen tiefgreifenden Rollback befürchten lassen, wie er auch allenthalben von Expert*innen wie Jutta Allmendiger für Deutschland prophezeit wird (taz 2021). Ich würde sogar behaupten, dass gegenwärtig kein Rollback, sondern eher eine Zementierung von Rollen zu beobachten ist, die so nachhaltig eben nicht überwunden waren, wie man vor allem in den westlichen Wohlstandsgesellschaften glauben wollte. Neben der Rolle des Opfers, der im Privaten Wirkenden sowie der Nicht-Teilhabenden kristallisiert sich gerade in Phasen des Lockdowns und in Phasen hoher Inzidenzen eine weitere Rolle heraus, die als traditionell stereotyp weiblich charakterisiert werden muss: Frauen sind die Fürsorgenden in der Pandemie. 

Diese Rolle ist mit vielen negativen Folgen behaftet – von der unbezahlten Care-Arbeit bis hin zur Ausbeutung, Diskriminierung und Unterdrückung. Trotzdem: gerade in Zonen gewaltsamer Konflikte, in denen Frauen aufgrund der Pandemie auch noch ihre Erwerbsgrundlage verloren haben, sind sie als Fürsorgende diejenigen, die den Alltag einer Großfamilie organisieren, sich für das Wohl der Familie verantwortlich zeichnen, ja das grundlegende Überleben Aller sicherstellen. Das zeigt: Fürsorge ist keineswegs nur Unterdrückung. Frauen tragen die grundlegende Verantwortung für ganze Familienverbände. Fürsorge hat also sehr wohl einen ermächtigenden Kern. Diese alte Erkenntnis muss stärker ins Bewusstsein gelangen, um Fürsorgende nicht per se als Opfer im Privaten darzustellen. Fürsorge gibt Gestaltungsmacht. Sicherlich nicht die, die sich die FFS Agenda unter dem Begriff der belangvollen Teilhabe vorstellt, aber sie birgt ohne Zweifel Chancen für Selbstermächtigung. 

Dieser Beitrag möchte deshalb dazu ermutigen, das Potential eines Fürsorge-Konzepts für die Ermächtigung der Frau zu identifizieren und dabei nicht stehen zu bleiben. Über Fürsorge sollte um ein vielfaches prinzipieller nachgedacht werden. 

Wäre jetzt nicht die rechte Zeit, Fürsorge nicht als weibliche Rolle zu bewerten, ja abzuwerten, sondern im Sinne einer globalen Norm der Fürsorge aufzuwerten? Sind das Eindämmen von Konflikten, die Friedenssicherung oder der international unterstützte Wiederaufbau eines vom Konflikt zerstörten Landes nicht auch Fürsorge? Fürsorge im öffentlichen Raum einer globalen Gesellschaft? 

Gilligan hatte 1982 bereits den Versuch unternommen, Fürsorge im globalen Kontext zu verorten – jedoch ohne Erfolg. Dabei hätte der moralische Kern der Fürsorge das Potential, das internationale Normgefüge fundamental zu bereichern. Denn Fürsorge konstituiert sich aus interpersoneller Aufmerksamkeit, Verantwortungsbewusstsein und sozialer Responsivität, Praktikabilität und Kontextbewusstsein (Robinson 1997: 121). Die aktuelle Situation könnte ein Fenster der Möglichkeiten sein, dieses Konzept, das als typisch weiblich betrachtete Rolle wahrgenommen wird, stärker zu etablieren. Eine veränderte Konnotation von Fürsorge könnte dazu führen, dass die von Robinson geschilderten, sehr weiblichen Attribute der Fürsorge-Moral in männlichen Kontexten von Krieg und Sicherheit eben nicht mehr als per se weich und schwach wahrgenommen werden. Vielleicht wäre es an der Zeit, aus der Not eine Tugend zu machen. 

Opfer und Fürsorgende – Rollen in der COVID-19 Pandemie 

Mit diesem Beitrag ist der Appell verbunden, nicht bei den negativen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf die Geschlechterstereotype stehen zu bleiben. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Frauen in die Opferrolle und ins Private zurückgedrängt wurden. Dies schließt auch ein, dass belangvolle Teilhabe auf politischer Ebene derzeit kaum möglich ist. Das wirft die globale Agenda FFS ohne Zweifel zurück. Wir sollten vielmehr den Versuch unternehmen, offensichtliche Rückfälle in längst überkommene Stereotype zu überdenken und in Richtung von Empowerment zu interpretieren. Sicherlich, ein Opfer bleibt ein Opfer. Eine Fürsorgende aber ist nicht nur die Frau am Herd, sondern auch die UN-Kommandeurin einer Friedensoperation. Meiner Ansicht nach taugt das Fürsorge-Konzept als normative Basis aller Friedensbemühungen und ist in dieser Hinsicht längst ent-gendered. 

Der Blogbeitrag fußt auf dem Aufsatz „Frauen, Frieden und Sicherheit“ unter den Bedingungen der COVID-19 Pandemie. Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung, 9: 321-335.

Quellenangaben

Council on Foreign Relations 2020. Women`s Participation in Peace Processes, URL: https://www.cfr.org/womens-participation-in-peace-processes/ 

Gilligan, Carol 1982. In a Different Voice. Psychological Theory and Women’s Development, Cambridge University Press. 

Ifat Maoz 2011. Women and Peace Hypothesis. Blackwell Publishing. 

Robinson, Fiona 1997. Globalizing Care: Ethics, Feminist Theory, and International Relations. Alternatives 22: 113-133. 

Scheuermann, Manuela und Zürn, Anja (Hrsg.) 2020. Gender Roles in Peace and Security. Prevent, Protect, Participate. Springer. 

taz 2021. taz Talk zu Feminismus. Corona und die Frauen, URL: https://taz.de/taz-Talk-zu-Feminismus/!5744433/ 

Tickner, Ann J. 1992: Gender in International Relations. Feminist Perspectives on Achieving Global Security, Columbia University Press. 

Tickner, Ann J. 2019. Peace and Security from a Feminist Perspective, in: Davies, Sara E. & True, Jacqui (Hrsg.). The Oxford Handbook of Women, Peace, and Security, Oxford University Press. 

UN Women 2020. UN Women raises awareness of the shadow pandemic of violence against women during COVID-19, URL: https://www.unwomen.org/en/news/stories/2020/5/press-release-the-shadow-pandemic-of-violence-against-women-during-covid-19 

Women Political Leaders 2021. Women Health ministers: courageous and ambitious leaders during the COVID-19 pandemic, URL: https://www.womenpoliticalleaders.org/women-health-ministers-courageous-and-ambitious-leaders-during-the-covid-19-pandemic/ 

Über die Autor*innen

Manuela Scheuermann ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft und Sozialforschung, Fachbereich Europaforschung und Internationale Beziehungen an der  Julius Maximilians Universität Würzburg. Sie forscht innerhalb des Projekts „Normen in Aktion: eine Analyse der nationalen und regionalen Aktionspläne zur Umsetzung der globalen „Women, Peace and Security Agenda“. Seit 2017 ist sie außerdem Mitglied des Gender-Forums in Würzburg, das die Stärkung von Genderaspekten in Forschung und Lehre anstrebt. Kontakt: M.Scheuermann@uni-wuerzburg.de