Verbunden in Quarantäne?

Von Annalena Groppe

Als eine Auswirkung der COVID-19-Pandemie wird unter anderem eine neue Erfahrung von zwischenmenschlicher und globaler Verwobenheit beschrieben: Mein Zuhausebleiben hat Auswirkungen auf die körperliche Unversehrtheit meiner Nachbar*innen und wirkt sich durch die globalen Wirtschaftsbeziehungen sogar über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg aus. Sowohl in der Friedenspädagogik als auch in der Global Citizenship Education wird die Auseinandersetzung mit „Glokalität“ – also den Verbindungslinien von lokalem und globalem Handeln – als eine zentrale Lernressource verstanden, die Kompetenzen zur gewaltfreien Transformation von Konflikten in einer globalisierten Welt stärkt[1]. Zum Beispiel zeichnet das Lernspiel „Ene Mene Muh“ die Verbindung von globalen Ursachen für Migration und Flucht zu lokaler Asylpolitik und Rassismus nach, um politische und persönliche solidarische Handlungsoptionen als Antwort auf transnationales Gewaltgeschehen zu eröffnen.

Eine Elicitive Friedenspädagogik stellt dabei die Erfahrungsebene dieser Verwobenheit in den Mittelpunkt. Sie ergänzt dadurch rein kognitive Ansätze um z.B. emotionale oder spirituelle Aspekte. Das in der Coronakrise gesammelte Erfahrungswissen der Lernenden kann somit als richtungsweisend für elicitive Lernprozesse verstanden werden. Wolfgang Dietrich, der den Ansatz für die Friedenspädagogik theoretisch fundiert hat, beschreibt diese Verwobenheitserfahrung als Transpersonalität. In ihr liegt für die Elicitive Friedenspädagogik eine zentrale Ressource. Denn wenn ich mich als mit ‚dem Anderen‘ verbunden wahrnehme, können sich neue transformative Schritte im Konflikt eröffnen, da z.B. Interessen weniger kompetitiv und mehr kooperativ wahrgenommen werden.

Zentral für einen Lernraum, der erfahrungsorientierte Lernprozesse ermöglicht, ist häufig ein Lernsetting in der Gruppe mit einem Fokus auf Beziehungen, das einen sicheren Raum für konfliktive Lernerfahrungen eröffnen soll.[2] Das physische Kontaktverbot als Antwort auf die COVID-19-Pandemie stellt diese klassische Formate der Elicitiven Friedenspädagogik vor Herausforderungen: Viele Begegnungen und Seminare fallen aus oder werden auf unbestimmte Zeit verschoben. Daher rücken in Zeiten von COVID-19 und gebotener körperlicher Distanz auch neue Formen des transpersonalen Lernens in den Blick. Wie kann die Elicitive Friedenspädagogik durch diese neuen transpersonalen Erfahrungsräume transformative Potentiale bestärken und gleichzeitig theoretisch über sich selbst lernen?

Digitale Lernräume der Verbundenheit

Auch im Kontext der Elicitiven Friedenspädagogik ist derzeit ein Ausbau der Digitalisierung der Ansätze zu beobachten: Gemeinsame körper-, stimm- oder atembasierte Methoden sind zum Beispiel auch über Videokonferenzen möglich. Oft sind die Räume zu Beginn geprägt von Unsicherheit, denn gewohnte Routinen mit physischem Kontakt werden durchbrochen. Der*Die Facilitator*in kann hier Emotionen wie zum Beispiel Irritation, Angst oder Verlust aber auch Neugier und Kreativität als Lernpotential aufnehmen und diese zum Thema machen. Auch ermöglicht die Ortsungebundenheit längerfristige gemeinsame Lernprozesse zwischen Menschen aus unterschiedlichen Erdteilen.

Gleichzeitig ist aber auch der Zugang zu digitalem Lernen abhängig von Privilegien. Schon in Deutschland gehören längst nicht für jede*n der Computer und Internetzugang zur Grundausrüstung. Damit verbunden ist auch die Notwendigkeit, kritische Medienkompetenzen zu vermitteln – ein Themenfeld, dessen sich die Friedenspädagogik bereits u.a. im Umgang mit digitaler Hassrede annimmt.

Zeit für das Selbst?! – Grenzen des Lernens in akuten Krisensituationen

Als eine weitere Auswirkung des ‚Corona-Shut-Downs‘ wird häufig eine erlebte Entschleunigung und Zeit für eine neue Selbst-Beziehung beschrieben. Viele Menschen erleben die Krise allerdings unter herausfordernden ökonomischen und sozialen Bedingungen. Die Kontaktbeschränkungen sind eine von außen hervorgerufene Zwangssituation, welche das Prinzip der Freiwilligkeit der Friedenspädagogik untergräbt. Die Sicherheit, die in physischen Lerngruppen durch enge Beziehungen zur Gruppe und Lernbegleitung (nicht zuletzt durch die körperliche Nähe) geschaffen wird, ist nicht unmittelbar greifbar. Eine Elicitive Friedenspädagogik kann diese Lernbedingungen zum Thema machen und dadurch Räume schaffen, in denen die Krise sowohl als Überforderungssituation wie auch als Entfaltungschance anerkannt werden kann.

Trotz der schwierigen Umstände ist es möglich, momentan vermehrt alltägliche Formen des Friedenslernens zu beobachten: auf Grund der zahlreichen gebrochenen Routinen und der daraus erwachsenden Lernanlässe können Transformationspotentiale entdeckt und erprobt werden. Die Kontaktbeschränkungen können z.B. Raum für Verbundenheitserfahrungen mit der Natur öffnen: Nicht-menschliche Entitäten können das Virus nicht übertragen; der Wald wird zum sicheren Beziehungsraum, der eine Pause vom alltäglichen Krisen-Lernen ermöglicht. Und vielleicht erlaubt diese Verbundenheit – ganz intentionslos – neue, nicht ausschließlich menschenzentrierte, Perspektiven auf mein ökologisches und politisches Handeln in der Welt.

Erfahrung globaler Verwobenheit

Erfahrungen globaler Verwobenheit können auch Unsicherheiten und Widerstände wecken, da bestehende Konzepte von Identität und Autonomie herausgefordert werden. So ist eine momentane Auswirkung der COVID-19-Pandemie die Zunahme einer Politik der Abschottung und nationalistischen Alleingänge, zum Beispiel mit Blick auf die europäische Ebene. Die humanitären Krisen in den Geflüchtetenlagern in Griechenland oder in Kriegs- und Katastrophengebieten werden von linken Medien als Auswirkungen einer Politik westlicher Privilegiensicherung beschrieben.

Potentiale für Solidarität, die aus der gemeinsamen Erfahrung „die ganze Welt in Quarantäne“ erwachsen könnten, scheinen vor allem im sozialen Nahbereich wirksam zu werden – so wie Nachbarschaftshilfen, Masken nähen oder eine breite Unterstützung innerstaatlicher Kreditzusagen und finanzieller Rettungsschirme. Nicht zuletzt ist durch die Einschränkung der Bewegungsfreiheit Gemeinschaft momentan auch vorwiegend auf dieser Ebene spürbar: zum Beispiel im vielerorts praktizierten sonntäglichen Singen der „Ode an die Freude“ zum Ausdruck von Solidarität – aber wird dabei wirklich ein europäischer Geist spürbar?

Um unsere Verwobenheit in globalen Strukturen erfahrungs- und beziehungsorientiert zum Thema zu machen, ist es notwendig, die transpersonalen Erfahrungen und ihre Reflexion über nationalstaatliche Grenzen auszuweiten. Die COVID-19-Pandemie macht diese Aufgabe noch dringender. Eine Perspektive hierfür bieten die beschriebenen Digitalisierungsprozesse, welche gemeinsame Lernräume unabhängig von der geographischen Position öffnen können. Zum Beispiel treten im Projekt Chat der Welten Schüler*innen aus Deutschland mit Gleichaltrigen im Globalen Süden in direkten Austausch, schließen Freundschaften und spüren ganzheitliche Verbundenheit.

Fazit

Neue Formen transpersonalen Lernens können während der Corona-Pandemie transformative Potentiale bestärken, indem die Nutzung digitaler Lernräume mit der Vermittlung von Medienkompetenz verbunden wird, aufkommende Emotionen thematisiert, herausfordernde Lernbedingungen in der Krise anerkannt und gleichzeitig der Blick auf das intentionslose Lernen im Alltag gelenkt wird.

Der Wandel von Lern- und Erfahrungsräumen durch die Kontaktbeschränkungen ist außerdem theoretisch relevant, da deutlich wird, dass der – nicht nur digitale – Zugang zu ihnen immer auch von Privilegien abhängig ist und somit Gewaltstrukturen reproduziert. Das Bewusstwerden und die Thematisierung darin liegender Herausforderungen und die Entwicklung transformativer Schritte sind relevant für zukünftige Forschung. Eine Elicitive Friedenspädagogik hat hier die paradox klingende Aufgabe, im Rahmen der Kontaktbeschränkungen – nicht nur geographische – Distanz zu überwinden. Denn die Erfahrung eines globalen ‚sozialen Nahraums‘ kann in diesen Tagen Solidarität über nationale Grenzen hinaus stärken.

[1] Werner Wintersteiner, „Global Citizenship Education – eine pädagogische Antwort auf die ‚große Regression‘?“ 1, Nr. 42 (2019): 21–25.

[2] Wolfgang Dietrich, „Conviviality, Ego, Team and Theme Behavior in Transrational Peace Education“, Journal of Peace Education 16, Nr. 3 (2. September 2019): 251–73, https://doi.org/10.1080/17400201.2019.1697064 .

Über die Autor*innen

Annalena Groppe ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Friedensakademie Rheinland-Pfalz und forscht zu Potentialen der Friedenspädagogik in polarisierenden Konflikten um Demokratie.