Zeitsplitter – Splitterzeit: Friedensforschung und Bildende Kunst am Westwall
von Tim Schroll
Im Sommersemester 2025 fand eine ungewöhnliche Lehrveranstaltung statt. Dr. Gregor Walter-Drop und Christopher Rohles von der Friedensakademie Rheinland-Pfalz ermöglichten den Studierenden der RPTU Kaiserslautern-Landau Zeitgeschichte in einem neuen Format zu erfahren und zu diskutieren. Eine zentrale Rolle spielten Baumstücke aus der Eifel, in denen Granatsplitter aus der Zeit des zweiten Weltkrieges eingeschlossen sind. Um diese Baumstücke nicht nur historisch als „Zeitzeugen“ zu betrachten, sondern auch ihrer künstlerisch/materiellen Dimension gerecht zu werden, ergab sich eine Kooperation mit Prof. Tina Stolt des Instituts für Kunstwissenschaft und Bildende Kunst. Daraus entstand eine explorative und multiperspektivische Lehrveranstaltung, an der sich vor allem Studierende der künstlerischen- und politikwissenschaftlichen Studiengänge beteiligten. Im Folgenden berichten Teilnehmende von den Erfahrungen aus dieser besonderen Vernetzung.
In dieser Veranstaltung ging es nicht nur um sozialwissenschaftliches Kontextwissen, sondern die Studierenden erprobten auch diverse künstlerische Zugänge zu dem Thema. Damit bot die Veranstaltung die Möglichkeit zum ästhetischen Lernen, in dem die Studierenden geschichtliche Artefakte, wie die Granatsplitter, sinnlich erfahren konnten, um davon ausgehend ihr Wissen zu kontextualisieren und so einen Anstoß für mögliche Veränderung zu generieren.[1] Um auch die Umgebung der Baumstücke historisch und ästhetisch zu erfahren, fand vom 20. bis 21. Juni 2025 eine zweitägige Exkursion in das Grenzgebiet zwischen Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Ostbelgien statt. Zusätzlich zu den Seminarteilnehmer:innen nahmen an dieser auch studentische Mitarbeitende der Friedensakademie Rheinland-Pfalz teil und brachten ihre Perspektiven mit ein. Wie auch das Seminar, stand die Exkursion im produktiven Spannungsfeld von dichtem Input sowie der Freiheit zur ästhetischen Erkundung und Bewusstwerdung der Orte, an denen die Bäume einst standen und Geschichte erlebt haben.
Das spannungsreiche Verhältnis in welchem der Umgang mit ehemaligen NS-Stätten, wie dem Westwall steht beschreibt Susanne Rau treffend: „Die Frage nach einem adäquaten Umgang mit Orten, an denen Dinge passiert sind, an die man sich am liebsten nicht erinnern möchte, lässt sich wohl kaum endgültig beantworten. Gewiss gibt es gute Beispiele des Umgangs, oder Best-Practice-Modelle, doch letztlich hängt die genaue Ausgestaltung immer auch von der Nachfolge-Gesellschaft – deren Wissen und Werten – ab, die mit dem Ort ›umgehen‹ soll.“[2]
Stadtbesichtigung St. Vith: Links: Mittelalterlicher Turm und „Millionenberg“. Der Turm als einziges Gebäude der Stadt, das die Kriegsjahre überdauerte, steht am Rand eines Parks auf den Trümmern der Stadt errichtet. Rechts: Besichtigung des Kriegerdenkmals.
Von diesem Hintergrund begaben wir uns auf Exkursion, in die Grenzregion zwischen Ostbelgien und der Eifel. Nachdem wir in St. Vith in Ostbelgien Quartier bezogen hatten, erhielten wir vom Regionalhistoriker und Lehrer Gary Jost eine Führung durch den Ort. Schon nach wenigen Schritten wurde deutlich, wie sehr die Ereignisse während des zweiten Weltkriegs, vornehmlich der Ardennenoffensive vom Ende des Jahres 1944 bis Frühjahr 1945, den Ort und die Identität seiner Bewohner:innen bis heute prägen. So stießen wir zu Beginn der Führung auf den „Millionenberg“, auf dem der Schutt des Ortes aufgetürmt wurde, der in der Offensive und der Gegenoffensive der Alliierten bis auf das letzte Haus zerstört wurde. Entsprechend gibt es heute in St. Vith keine Gebäude, die älter sind als das Kriegsende - mit Ausnahme eines Turms der mittelalterlichen Festungsanlage. Die Begehung des Schuttberges, der heute ein ausgedehnter Stadtpark ist, war für viele Exkursionsteilnehmer:innen bereits eine erste emotionale Irritation. Einerseits ist der „Millionenberg“ ein Ort der Erinnerung an Schmerz, Leid und Verlust. Andererseits war es ein friedvoller Ort, welcher uns Schutz vor der hochsommerlichen Sonne bot.
Wir besichtigten auch die Kirche und das Kriegerdenkmal von St. Vith. Die Kirche wurde errichtet, um die Unverwüstlichkeit und Wehrhaftigkeit der St. Vither:innen zu demonstrieren und erinnert in ihrer heutigen Form an einen massiven Trutzbau. Am Kriegerdenkmal verdeutlichte uns Jost mehrere historisch bedingte Spannungsverhältnisse des ostbelgischen Selbstverständnisses, welches sich zwischen deutschen, belgischen und unabhängigen Bezügen bewegt. Das Denkmal besteht aus einem weißen Steinobelisken auf einem begrünten Platz, der an einer Seite durch einen Steinquader ergänzt wird. Auf dem Obelisken befanden sich neun Kreuze, für die Kriegsjahre des ersten und zweiten Weltkrieges, in die St. Vith involviert gewesen war. Während St. Vith zur Zeit des 1. Weltkriegs Teil des deutschen Kaiserreiches gewesen war, gehörte es im 2. Weltkrieg zu Belgien und wurde von Nazideutschland überfallen. Dieses Denkmal führte uns die identitäre Vielfalt von St. Vith physisch vor Augen. Die Studierenden erschlossen sich die Gedenkorte sowohl durch begleitende Diskussion als auch künstlerisch, z.B. durch das Anfertigen von Skizzen.
Besichtigung einer zerstörten deutschen Bunkeranlage, deren Aufbereitung im Spannungsfeld zwischen Denkmalschutz und Naturschutz steht
Im Anschluss überschritten wir die Grenze zurück nach Deutschland und näherten uns dem Westwall. Dieser spielte eine zentrale Rolle in der Ardennenoffensive, da die Alliierten nach der Landung in der Normandie nicht wagten den Westwall zu überschreiten und stattdessen auf Verstärkung warteten. Die massiven Propagandabemühungen der Nazis sollten sowohl die Moral an der „Heimatfront“ und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken, als auch auf alliierter Seite Angst vor der Überwindung des Westwalls zu schüren. Dies brachte dem Westwall im anglophonen Raum den Namen („Siegfried Line“) ein. Der Westwall bestand aus verschiedenen Anlagen, darunter mehrere tausend Bunker und unzähligen Höckerlinien, die aufgrund ihrer Form auch Drachenzähne genannt wurden und dazu dienten, dass Fahrzeuge das Gelände nur an bestimmten strategisch ausgewählten Stellen passieren konnten. Andrea Rumpf, die Geschäftsführerin der Stiftung „Grüner Wall im Westen – Mahnmal ehemaliger Westwall“[3], zeigte uns die verschiedenen, heute teils unsichtbaren, Anlagen des Walls. Auch dieser Ort bot die Möglichkeit für eine multiperspektivische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Die Mahnmäler des Krieges befinden sich inmitten der Naturschönheit und Abgeschiedenheit der Eifel, was einigen der Bunkerruinien eine fast schon idyllische Aura verleiht. Damit geht direkt die Frage der Herausforderungen von Erinnerungs- und Gedenkkultur an solchen „Täterorten“ einher. In diesem Zusammenhang wurde der Ausdruck „Wehrlandschaft“ geprägt, der sinnbildlich das Verhältnis von Natur und Kriegs- bzw. Zerstörungsmaschinerie zum Ausdruck bringt. Zudem steht der Westwall auch für die Enteignung und Zwangsarbeit der lokalen Bevölkerung. Dieses schwierige Verhältnis, zwischen Leid der deutschen Zivilbevölkerung und der Instrumentalisierung durch die Nazis, führt dazu, dass die politische Bildungsarbeit am Westwall sehr gering ausgeprägt ist und nahezu vollständig von Privatpersonen und Initiativen betrieben wird. Die Akteure rund um den ehemaligen Westwall stellen eine heterogene Gruppe dar. Deren Angebote reichen von z.T. romantisierten Darstellungen, welche an die Narrative des zweiten Weltkrieges und der NS-Zeit anschließen und von engagierten Laien stammen, bis zu verkehrsgesicherten Anlagen, welche von der Stiftung „Grüner Wall im Westen – Mahnmal ehemaliger Westwall“ betreut werden.[4] Dieses problematische Verhältnis zur Geschichte des Westwalls zeigt u.a. anschaulich das private Westwallmuseum in Primasens.[5] Der derzeitige Stand der politischen Bildung und Aufarbeitung als Gedenkorts wird an der juristischen Bezeichnung für die Anlagen des Westwalls deutlich. Diese sind sogenannte Unorte, d.h. Orte die für nichts genutzt werden können.
Am Abend bot der zweite Teil des Films[6], „Kriegssplitter- Kriegsjahre in der Venn/Eifel Region“ über die Ereignisse während der Ardennenoffensive von 1944-45 in der Region, einen mehrdimensionalen Lernanlass. Der Film, welcher reich an Zeitzeugengesprächen mit zivilen Beteiligten und historischem Bildmaterial war, lies die historischen Ereignisse zu einem emotional involvierenden Erlebnis werden. Durch diese reiche Lernerfahrung, konnten nicht nur historisches Faktenwissen, sondern gleichzeitig Sensibilität für die Perspektive von Menschen geschaffen werden, welche als Zivilpersonen teilweise schutzlos den Grausamkeiten des Krieges ausgesetzt waren, bzw. in Übertagung auf die heutige Zeit sind. Die daran anschließende gemeinsame Besprechung des Films in legerer Umgebung machte den Abend zu einer erfahrungsbezogenen, dialogischen und sinnvollen und damit ganzheitlichen Lernerfahrung[7] für alle Beteiligten.
Links: Studierende halten Eindrücke aus dem belgischen Waldgebiet hier durch Abpausen auf ein Stofftuch fest. Rechts: Beispiele der zahlriechen Gegenstände, die Erich Höhnen im Waldgebiet gefunden hat. Diese Stücke sind besonders eindrücklich, da sie einen personalisierten Bezug zu den Soldaten herstellen, die an diesem Ort womöglich gefallen sind.
Am zweiten Tag trafen wir uns mit dem Regionalhistoriker und pensionierten Förster Erich Hönen. Dieser hat einige Teile der alten Schlachtfelder zu einem Gedenkort ausgebaut. Dieser verdeutlichte uns nicht nur die Zustände an den Frontlinien, sondern auch die Verwobenheit der Region mit dem Kriegsgeschehen, denn so wie sich die Natur die Anlagen des ehemaligen Westwalls wieder angeeignet hat, berichtete Hönen, dass die Bewohner der Region sich die Hinterlassenschaften der Armeen aneigneten. Zum Beispiel berichtete Hönen davon, dass die ehemaligen Druckplatten von Antifahrzeugminen als Untersetzer für Töpfe oder ähnliches benutzt wurden oder es früher üblich war, alte Granathülsen als Blumenvasen zu verwenden. Solche Praktiken entsprangen einem pragmatischen Umgang mit dem Mangel, welcher in der Nachkriegszeit in weiten Teilen Europas herrschte. Hönen berichtete uns nicht nur eindrücklich von den Verhältnissen während und nach des Kriegsgeschehens, sondern auch wie er in verschiedenen Kontexten dabei half, gefallene Soldaten, vor allem aus den USA, zu identifizieren und ihnen ein Begräbnis und den Angehörigen Gewissheit zukommen zu lassen. Er fasst die Motivation für sein Engagement zusammen mit dem Verweis darauf, dass es egal ist, ob es sich um den 499. oder den 501. Fall handele, denn hinter allen Zahlen die heute in den Geschichtsbüchern stehen, stehen Menschen, die ein Leben vor sich hatten, voll von Träumen, Wünschen und Ängsten. Im Anschluss erkundeten die Teilnehmer:innen die Höckerlinie am „Hollerather Knie“ angeleitet durch eine künstlerische Achtsamkeitsübung: die Multidimensionalität ästhetischer Empfindungen zeigte. Diese Übungen boten ein eindrückliches Beispiel, dass jeder Ort oder jede Situation, sich aus verschiedensten, sich ergänzenden, Blickpunkten betrachten lässt. Am Beispiel der Höckerlinien, kann man diese als Objektivation der theoretisch gelernten, historischen Zusammenhänge betrachten oder als eine ästhetische Melange aus der Haptik des Betons, beim betasten oder als Sitzfläche und den natürlichen Geräuschen des Waldes, wie z.B. dem Zwitschern der Vögel. So zog sich die Verschränkung von künstlerisch-ästhetischem und rational-sozialwissenschaftlichen Zugang bis zum letzten Programmpunkt durch die gesamte Exkursion.
Besichtigung der Höckerlinie am „Hollerather Knie“. Die Studierenden übten sich hier besonders darin nicht nur visuelle Eindrücke zu sammeln, sondern sich auch für andere ästhetische Eindrücke, wie z.B. akustische oder haptische, zu sensibilisieren.
Die alle Sinne ansprechende Exkursion vermittelte nicht nur einen Teil grenzüberschreitender deutsch-belgischer Geschichte, sondern machte deren Auswirkungen auf Menschen, Umwelt und ganze Regionen erfahrbar. Die Eindrücke und Erfahrungen wurden im Seminar anschließend weiter reflektiert und in Form von künstlerischen Projekten bzw. Podcasts/Audiobeiträgen verarbeitet, wie u.a. im Podcast „Fokus Frieden“. Abschließend kann die Lehrveranstaltung als gelungene Gelegenheit dafür betrachtet werden, wie es möglich ist Studierenden Geschichte nicht nur aus der Perspektive verschiedener Disziplinen näher zu bringen, sondern auch die Bedeutung von Erinnerungsorten für den Erhalt und die Perpetuierung von Frieden, mit dem eigenen Körper erlebbar zu machen.
Fußnoten
[1] Vgl. Hans Mendl (2018) Ästhetisches Lernen, In: Hans Mendl (Hrsg.): Religionsdidaktik kompakt, München: klöstel-Verlag.
[2] Susanne Rau (2020) Was ist an Erinnerung räumlich? Zur Verortung von Erinnerungsräumen in gegenwärtigen Debatten. In: Charlotte Dany, Christoph Picker (Hrsg.) Mahnmal ehemaliger Westwall –Geteilte Verantwortung für einen Grenzraum. Landau: Evangelische Akademie der Pfalz. S. 63.
[3]Startseite . Stiftung Grüner Wall im Westen - Mahnmal ehemaliger Westwall Zugegriffen 03.07.2025
[4] Für einen Überblick über die Akteure am Westwall vgl. Jana Hornberger (2020) Der Westwall als friedenspädagogischer Lernort. Eine Anregung.
[5] Vgl. Rita Lauter (2016) Da gehen auch Nazis gerne hin. Westwall: Da gehen auch Nazis gerne hin | DIE ZEIT zugegriffen am: 29.09.2025
Über die Autor*innen

Tim Schroll hat 2023 seinen Master in Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik an der RPTU in Landau begonnen. Des Weiteren ist er in der politischen Bildung tätig. Im Bachelor studierte er Philosophie und Soziologie an der RPTU. In der Friedensakademie unterstützt er die Geschäftsführung der AFK bei administrativen Tätigkeiten.








