Erdogans Autoritarismus verspielt das Potenzial der Türkei

Von Sabine Mannitz

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan gibt sich nach dem Referendum für den politischen Systemwechsel als Garant der Stärke seines Landes. Die Gespaltenheit der türkischen Gesellschaft, das rigorose Vorgehen der AKP-Regierung gegen politische Gegner, die Unterdrückung kritischer Berichterstattung und Erdoğans demonstratives Poltern gegen Europa und seine Werte lassen indes das Gegenteil erwarten: die weitere Eskalation politischer Konflikte und einen Rückfall der Türkei in instabile Zeiten.

 Laut offiziellem Ausgang der Volksabstimmung vom 16. April 2017 haben 51,4 Prozent der wahlberechtigten Türkinnen und Türken für die Einführung eines Präsidialsystems in ihrem Land gestimmt. Präsident Recep Tayyip Erdoğan, dessen Machtbefugnisse auf dieser Grundlage zu erheblichen Lasten der parlamentarischen und judikativen Gewalten ausgeweitet werden sollen,[1] verkauft das Ergebnis seither als Sieg und zudem als Ausweis demokratischer Qualität. Das lediglich hauchdünne und nach Einschätzung von Wahlbeobachtern nicht ohne Hilfe von Unregelmäßigkeiten während der Abstimmung zustande gekommene Votum für die vorgeschlagenen Verfassungsänderungen bedeutet aber das genaue Gegenteil: Obwohl sich die amtierende Regierung seit dem Putschversuch vom Juli 2016 den ausgerufenen Notstand zu Nutze gemacht hat, um Bürokratie, Justiz, Parlament, Bildungswesen und Sicherheitskräfte von politischen Widersachern zu säubern, kritische Stimmen aus der Wissenschaft, der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit und den Medien mundtot zu machen, sie zu inhaftieren und als Terroristen zu diffamieren, hat dieses Klima der Repression die Hälfte der Türkinnen und Türken nicht davon abgehalten, sich der geplanten Verfassungsänderung entgegen zu stellen. Ein politischer Sieg ist das nicht, und auch der Anspruch auf demokratische Legitimität ist angesichts der Umstände bloße Rhetorik.

Demokratie oder Diktatur einer hauchdünnen Mehrheit?

Mehr als 100.000 Menschen wurden seit dem versuchten Militärputsch im letzten Sommer aus dem Staatsdienst entlassen, darunter mehrere Tausend Richter und Staatsanwälte, vor wenigen Tagen noch einmal über 9.000 Polizisten. Die Schutzrechte der über 40.000 Menschen, die unter der seit dem Putschversuch gültigen Notstandsgesetzgebung inhaftiert wurden, sind eingeschränkt. Sie können während des Ausnahmezustandes bis zu zwei Wochen in Polizeigewahrsam und mit Vorliegen einer Anklageschrift sogar jahrelang in Untersuchungshaft festgehalten werden. Kein Rückhalt, den eine Regierung in einer Bevölkerungsmehrheit genießt, relativiert eine solche Missachtung der Menschenrechte, die ja überhaupt nur durch staatlichen Schutz verwirklicht werden können. Hannah Arendt brachte in ihrem Hauptwerk, “Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft” (1951), diese “Aporie der Menschenrechte ” auf den Punkt.

Ein Demokratieverständnis, das sich nicht der Allgemeinheit der Bürgerrechte und dem Schutz der Freiheiten, auch politischer Minderheiten, verpflichtet, sondern dem das Majoritätsprinzip als Legitimationsquelle genügt, ist substanzlos.[2] Dabei geht es nicht darum, dass Mehrheitsprinzip per se in Frage zu stellen, sondern “Tendenzen zu seiner Perversion und damit zur Selbstaufhebung seiner Legitimationskraft”[3] zu bestimmen. Die funktionale und strukturelle Differenzierung ist ein zentrales Merkmal moderner Gesellschaften. Im Rahmen demokratischer Ordnung muss sie Anerkennung finden: durch freien Raum zur Meinungsbildung und -artikulation, Interessenvertretung und geregelte Entscheidungsfindung.

Schon John Lockes Konzept des Gesellschaftsvertrags benannte diese Bedingung als elementar, nach der Mehrheitsentscheidungen nur dann legitim seien, wenn die politische Körperschaft vom Willen aller getragen sei und das Wohl des Ganzen verpflichtende Norm sei. Die auch in der modernen Türkei bestehende gesellschaftliche und politische Pluralität kann nicht in ein Lenkungsschema absoluter Entscheidungs- und Gesetzgebungsgewalt gepresst werden, wenn der Anspruch auf demokratische Verfasstheit erhoben wird. Und vom Willen aller, die Grundlagen des politischen Systems zu ändern, kann bei  einem Stimmenvorteil einiger tausend Wahlberechtigter selbst dann nicht die Rede sein, wenn dieses Ergebnis ohne Manipulationen zustande gekommen sein sollte. Dass der Europarat sein Mitglied Türkei unter Beobachtung stellen wird,[4] wie diese Woche beschlossen und vom türkischen Außenministerium prompt als schändlich kommentiert wurde, ist daher eine richtige und überaus wichtige Entscheidung: die Hälfte der türkischen Bevölkerung steht gegen Präsident Erdoğan, und dieser zeigt keine Bereitschaft, den politischen Willen und das Mitgestaltungsrecht dieser Hälfte als legitim anzuerkennen.

Ein tief gespaltenes Land taugt nicht zum Stabilitätsanker

Zu Beginn der AKP-Regierungszeit, vor 15 Jahren, gab der Reformeifer des heutigen Präsidenten Anlass zu Hoffnungen, die Türkei könne sich von den autoritären Erbschaften des Osmanismus und des Kemalismus befreien, das Verhältnis von islamischer Religion und demokratischem Rechtsstaat entspannen und das sowohl geostrategisch als auch politisch vorhandene Potenzial eines vielfältig anschlussfähigen brokers in der Levante dazu nutzen, die anhaltenden Konflikte in der Region zu transformieren. Von der Aufbruchstimmung ist nicht viel geblieben, und das ist kein Zufall. Der in den vergangenen Jahren immer deutlicher gewordene Hang der AKP-Führung, politische Gegenstimmen lieber auszugrenzen als in mühselige demokratische Verständigungsprozesse einzutreten, die Abstriche von eigenen politischen Zielsetzungen erfordern, untergräbt das türkische Potenzial und gefährdet den gesellschaftlichen Frieden.

Ohne Bereitschaft und Fähigkeit zu Kooperation und Interessenausgleich kann im 21. Jahrhundert kein Land nachhaltige Erfolge erzielen, weder innen- noch außenpolitisch, geschweige denn ökonomisch. Es ist insofern einerseits ein Ausdruck der normativen Stärke liberal-demokratischer Werte, dass der Streit um die Gestaltung des Gezi-Parks in Istanbul 2013 in eine landesweite Protestwelle gegen den autoritären Stil der Regierung mündete; dass die bis vor kurzem boomende türkische Wirtschaft empfindliche Einbrüche erfährt, weil angesichts der unberechenbaren politischen Führung in Ankara Investitionen und Touristen ausbleiben; dass die Diskussion um einen EU-Beitritt der Türkei so dezidiert wie selten zuvor mit der generellen Herausforderung der wirksamen Durchsetzung von Rechtsstandards in den Beitritts- und den Mitgliedsländern verknüpft wird. Es gibt andererseits im konkreten Fall wenig Anlass zur Hoffnung, das knappe Abschneiden im Referendum könne den türkischen Präsidenten dazu bewegen, sich für konsensuale Prozesse zu öffnen. Die jüngste Verhaftungswelle belegt, dass Erdoğan weiterhin den starken Mann markieren will. Damit kann er die Gespaltenheit der türkischen Gesellschaft jedoch nicht überwinden, sondern wird unweigerlich zur Verschärfung der politischen Konfrontationen beitragen. Statt die Rolle eines regionalen Stabilitätsankers und brokers zu übernehmen, wird die Türkei in den kommenden Jahren instabiler werden, sofern der autoritäre Kurs nicht korrigiert wird.

Quellen: 

[1] Zur Erläuterung der verfassungsändernden Details im Überblick vgl. z.B. http://www.blick.ch/storytelling/2017/tuerkei/ oder https://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/175312/politik-und-macht

[2] Vgl. etwa Bernd Guggenberger/Claus Offe (Hrsg.): An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie. Politik und Soziologie der Mehrheitsregel, Opladen 1984: Westdeutscher Verlag; Hayek, Friedrich von: Economic Freedom and Representative Government,  London 1973: Institute of Economic Affairs.

[3] Guggenberger/Offe a.a.O, S. 18.

[4] Der Europarat wurde 1949 als zwischenstaatliche europäische Organisation gegründet, um Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte  voran zu treiben und ihre Einhaltung zu beobachten. Ihm gehören heute 47 Staaten an, darunter die Türkei. Vgl. http://www.coe.int/en/web/portal/home

Über die Autor*innen

Dr. Sabine Mannitz ist Leiterin einer Forschungsabteilung und Vorstandsmitglied im Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main.