Klartext reden mit der Türkei
Von Gisela Müller-Brandeck-Bocquet
Derzeit fährt die EU mit der immer autokratischer auftretenden Regierung Erdogans keinen klaren, überzeugenden Kurs. Dabei wäre es gerade jetzt wichtig, dass sie Rückgrat zeigt und sich wegen des Flüchtlingsabkommens nicht auf Abstriche an ihren demokratischen Werten einlässt.
Das europäisch-türkische Verhältnis: Eine schwierige Geschichte
Die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei waren schon immer äußerst schwierig. Das 1963 geschlossene Assoziierungsabkommen blieb wegen der Militärputsche in der Türkei (1960, 1971, 1980, 1997) ein prekäres Projekt und als 2005 Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufgenommen wurden, waren dem tiefe innereuropäische Auseinandersetzungen vorausgegangen. Schließlich hatten sich diejenigen Kräfte durchgesetzt, die den damaligen Demokratisierungskurs der Türkei unter Recep Tayyip Erdogan befördern und konsolidieren wollten. Bereits Ende 2006 jedoch wurden die Verhandlungen teilweise ausgesetzt; seither dümpelten sie ein Jahrzehnt lang vor sich hin.
Doch als die EU am 18. März 2016 mit der Türkei ein Abkommen zur Bewältigung des Flüchtlingszustroms schloss, beinhaltete dieser Deal, dass die Beitrittsverhandlungen wiederbelebt und mit neuem Elan vorangetrieben werden sollten. Inwieweit beide Seiten ernsthaft an dieses Vorhaben glaubten, muss offen bleiben. Höchstwahrscheinlich ist der inzwischen zum autokratischen Staatpräsidenten gewandelte Erdogan gar nicht mehr ernsthaft an einem EU-Beitritt der Türkei interessiert; und wie die von Polykrisen geschüttelte EU einen solchen verkraften könnte, steht eh in den Sternen. So war der Beschluss zur Intensivierung der Beitrittsverhandlungen beiderseits wohl vorrangig ein symbolischer Akt.
Eine zerstrittene EU
Dennoch kam es in der EU in den letzten Wochen zu heftigen Schlagabtauschen über den Umgang mit der Türkei. Die Frage lautet, ob man angesichts der brutalen Repression, mit der das Erdogan-Regime auf den gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 reagiert, noch Beitrittsverhandlungen mit Ankara führen kann und darf. Denn mit mehr als 100.000 vom Dienst suspendierten Staatsdienern und rund 40.000 Verhafteten sowie mit massiven Angriffen auf die Presse- und Meinungsfreiheit sind die türkische Demokratie und Rechtstaatlichkeit ernsthaft in Gefahr.
Am 24. November 2016 hat daher das Europäische Parlament mit großer Mehrheit (479 gegen 37 Stimmen bei 107 Enthaltungen) dafür gestimmt, die Verhandlungen mit der Türkei einzufrieren, d.h. „weder über offene Verhandlungskapitel mit Ankara zu sprechen noch neue Kapitel zu eröffnen“ (Zeit-online, 25.11.2016). Die EU-Parlamentarier betonten, dass es sich um eine zeitlich begrenzte Forderung handele, die bei Rückkehr der Türkei zu voller Rechtstaatlichkeit wieder aufgehoben werden könnte. Diese Resolution ist rechtlich nicht bindend, erregte aber dennoch heftigen Ärger in der Türkei.
Als der Rat der Außenminister am 13. Dezember 2016 über das Thema beriet, konnte kein Beschluss gefasst werden. Die erforderliche Einstimmigkeit ließ sich nicht erzielen, weil Österreichs Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) sich hinter die Entschließung des Europäischen Parlaments stellte und das Einfrieren der Verhandlungen forderte. „Es geht überhaupt nicht darum, Türen zuzuschlagen oder nicht mehr im Gespräch zu bleiben“, wird Kurz zitiert, sondern darum „ein politisches Symbol zu setzten und der Türkei nicht weiter vorzugaukeln, dass der Beitritt in die EU bald möglich sei“ (Süddeutsche Zeitung, 13.12.2016). Doch konnte sich Kurz mit dieser couragierten Haltung im Kreise seiner Kollegen nicht durchsetzen. Vielmehr hielt die slowakische Ratspräsidentschaft in einer nicht bindenden Erklärung der Außenminister fest, dass unter den gegebenen Umständen zwar keine neuen Verhandlungskapitel eröffnet werden sollen, den Prozess an sich wollte man aber nicht einfrieren. Explizit wird die EU-Türkei-Kooperation in der Flüchtlingsfrage als erfolgreich gelobt – die Abhängigkeit von der Türkei bei diesem Problem dürfte de facto entscheidend für den sehr moderaten Ton der Erklärung sein. Gleichwohl äußern die Minister mehrfach ihre ernsthafte Sorge um die Rechtstaatlichkeit der Türkei.
Die Befürworter dieser konzilianten Haltung – darunter auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier – betonten, sie wollten den Dialog mit Ankara aufrechterhalten, auch um Einfluss ausüben zu können. Zudem unterstütze auch die türkische Opposition diesen Kurs vehement. Außenminister Kurz, der den positiven Einfluss der EU auf Erdogan in Zweifel stellte, wurde scharf kritisiert; Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt, geißelte Österreichs Kompromisslosigkeit als „sehr enttäuschend“ (Süddeutsche Zeitung, 13.12.2016). So wird der einzige EU-Außenminister, der angesichts der prekären Lage in der Türkei mit Ankara Klartext reden will, bezichtigt, die Union zu spalten.
Vor diesem Hintergrund wirken die jüngsten Pläne der Kommission geradezu gewissenlos und rückgratlos; denn sie will die Wirtschaftsbeziehungen und die Zollunion mit der Türkei ausbauen. Dabei betonte die Kommission, diese Pläne seien „unabhängig von der aktuellen Entwicklung der Beziehungen zu sehen“ (Süddeutsche Zeitung, 21.12.2016).
Aber hallo, muss man da rufen, geht’s noch? Kann man noch instinktloser sein, noch opportunistischer? In ihrem „Fortschrittsbericht Türkei“ vom 9. November 2016 wirft die Kommission dem Land Rückschritte bei der Unabhängigkeit der Justiz und der Meinungsfreiheit vor und sieht insgesamt deutlich verschlechterte Chancen für den Beitritt. „Die Türkei hat sich offenbar entschieden, sich von Europa weg zu bewegen“, meinte Johannes Hahn, EU-Kommissar für Nachbarschaftspolitik und Erweiterung bei der Vorstellung des Berichts (Zeit-online, 9.11.2016).
Wie kann da die sich politisch verstehende Juncker- Kommission eine mit überwältigender Mehrheit beschlossene Resolution des Europäischen Parlaments, dieses Gewissens Europas, so respektlos übergehen? Wie kann sie die Erklärung der amtierenden slowakischen Präsidentschaft desavouieren, die doch noch vor einigen Tagen das Nicht-Eröffnen neuer Verhandlungskapitel festgehalten hat und damit immerhin in die „richtige Richtung“ wies, wie der Abweichler Sebastian Kurz anerkannte? Wie kann all das sein?
Keine Verhandlungen mit einer autoritären Türkei
Erdogan plant derzeit einen fundamentalen Umbau des türkischen politischen Systems, das künftig den Staatpräsidenten mit sehr weitreichenden Befugnissen ausstatten soll. Die Regierung wäre dann nicht mehr dem Parlament, sondern dem Präsidenten verantwortlich, der zugleich auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte würde. Ein entsprechendes Referendum ist für März 2017 angedacht (Süddeutsche Zeitung, 09.01./10.01.2017). Außerdem hat Erdogan mehrfach eine Parlamentsabstimmung über die Wiedereinführung der Todesstrafe in Aussicht gestellt. Sollte es dazu kommen, ist ein EU-Beitritt definitiv ausgeschlossen.
Daher wäre es eine vernünftige und verantwortungsvolle Lösung, wenn Kommission und Rat – warum nicht auch der Europäische Rat als die Versammlung der Staats- und Regierungschefs der EU? – sich dem Votum des Europäischen Parlaments anschließen würden. Sie sollten beschließen: Wir, die Europäische Union, setzen Verhandlungen mit der Türkei solange aus, bis Referendum und Parlamentsabstimmung erfolgt sind und somit der künftige Kurs der Türkei erkennbar wird. Diese Zeit nutzen wir, die EU, um vertieft darüber zu debattieren, ob wir in absehbarer Zeit einen Beitritt der Türkei überhaupt noch anstreben. Und wir schaffen neue, alternative und innovative Modalitäten, um Drittstaaten, die nicht EU-Mitglieder sind, partnerschaftlich und verlässlich mit uns zu verbinden – über solche neuen Modelle müssen wir angesichts des bevorstehenden Brexit ohnehin sehr intensiv nachdenken.
Über die Autor*innen
Prof. Dr. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet ist Professorin für Europaforschung und Internationale Beziehungen an der Universität Würzburg.