Menschenrechtsbildung im Zeitalter der Digitalisierung
Von Ulrike Zeigermann
Im Zeitalter der Digitalisierung verändern neue Technologien, digitale Medien und online-Kommunikationskanäle in rasantem Tempo die Inhalte, Methoden, pädagogischen Praxen und theoretischen Grundlagen der Menschenrechtsbildung. Worin liegen Chancen und Herausforderungen dieser Entwicklung?
Menschenrechtsbildung im Wandel
In den letzten zehn Jahren hat es einen enormen Zuwachs an digitalen Lern-, Informations- und Kommunikationstechnologien gegeben, durch die mehr Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Bildungsabschluss, ihrem Einkommen und ihrer persönlichen Lebensumstände erreicht werden können. Mit zunehmender Digitalisierung wurden im formellen Bildungssektor an Schulen und Hochschulen sowie im informellen Bildungssektor durch Institute und Akademien in nichtstaatlicher Trägerschaft, internationale Organisationen und zivilgesellschaftliche Akteure zunehmend auch Formate mit online-basierten Ansätzen zur Menschenrechtsbildung genutzt.
Menschenrechtsbildung umfasst entsprechend der Erklärung über Menschenrechtsbildung und –training der Vereinten Nationen von 2011 das Recht auf Bildung über Menschenrechte, Bildung durch Menschenrechte und Bildung für Menschenrechte. Die Erklärung ist das Ergebnis intensiver Arbeit der Vereinten Nationen im Bereich der Menschenrechtsbildung über die letzten Jahrzehnte. Im Dezember 1994 rief die Generalversammlung der Vereinten Nationen nach der World Conference on Human Rights in the Vienna Declaration and Programme of Action die UN Dekade für Menschenrechtsbildung (1995-2004) aus. Im Anschluss daran wurde das Weltprogramm für Menschenrechtsbildung ins Leben gerufen. In der ersten Phase dieses Programms (2005-2009) lag der Fokus auf Menschenrechtsbildung in der Grund- und Sekundarschulbildung. In der zweiten Programmphase (2010-2014) beschäftigte sich das Programm insbesondere mit der Hochschulbildung und Menschenrechtstrainings im öffentlichen Dienst, also von Lehrer*innen, Trainer*innen, Polizei, Militär, Justiz, öffentliche Verwaltung, Regierung und Gesundheitswesen. Die momentan laufende dritte Phase (2015-2019) soll der Stärkung und Implementierung der ersten und zweiten Projektphase dienen und beschäftigt sich besonders mit der Menschenrechtsbildung von Journalist*innen.
Die Erklärung und Arbeitsprogramme der Vereinten Nationen gelten auch als Orientierung und Qualitätsstandard für die inhaltliche Ausgestaltung der Menschenrechtsbildung in Deutschland. Bereits 1980 gab die Kultusministerkonferenz eine Empfehlung zur Menschenrechtserziehung heraus, die im Jahr 2000 fast unverändert erneut beschlossen wurde und trotz der Länderhoheit zu Bildungsfragen für die gesamte Bundesrepublik gilt. Menschenrechtsbildung ist heute in den Schulgesetzen der einzelnen Bundesländer verankert und kann in allen Jahrgangsstufen in den unterschiedlichen Fächern von Sozialkunde über Ethik, Geographie, Geschichte oder Religion aufgegriffen werden (vgl. Sekretariat der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der BRD 2008).
Auf der High-level Panel Diskussion im September 2016 über die Implementierung der Erklärung der Vereinten Nationen über Menschenrechtsbildung und –training wurden praktische Erfahrungen und zukünftige Herausforderungen diskutiert sowie die Bedeutung einer globalen Menschenrechtsbildung als Voraussetzung zum Schutz und zur Gewährleistung weiterer Menschenrechte unterstrichen. Durch E-Learning-Formate sollen Zugang und Qualität der Menschenrechtsbildung in Zukunft verbessert werden.
Digitalisierung der Menschenrechtsbildung
Bereits heute werden neue digitale Angebote im Bereich der Menschenrechtsbildung zum Teil ergänzend, zum Teil an Stelle traditioneller direkter und interaktiver Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden eingesetzt. Sie decken eine breite Palette von Formaten für diverse Zielgruppen auf unterschiedlichen Ebenen und in vielen Sprachen ab:
- Für Smartphone, Tablet oder Computer gibt es Apps mit denen Menschenrechtsfragen an verschiedene Zielgruppen adressiert werden können. Die Downloadstatistiken der Hersteller deuten darauf hin, dass bis zu 50.000 Installationen vorgenommen wurden (Amnesty Mag, Stand Oktober 2017). In den meisten Fällen bleibt die Zahl der Nutzer*innen aber deutlich darunter (z.B. UN Human Rights und UDHR Human Rights jeweils 5.000–10.000, Women’s Human Rights und Geneva Human Rights Agenda jeweils 1.000–5.000 oder Human Rights Mapperund Child Rights Monitor 500 –1.000 Installationen, Stand Oktober 2017).
- Darüber hinaus gibt es zunehmend Online-Spiele, die Abwägungsprozesse bei kritischen Menschenrechtsfragen simulieren und durch Rollenspiele für die Lage von Menschen sensibilisieren. Diverse Online-Spiele wurden zum Teil von Organen der Vereinten Nationen, wie „Against all Odds“ von UNHCR, entwickelt, aber auch von zivilgesellschaftlichen Organisationen, wie Amnesty International (RespectMyRights), DoSomething (Karma Tycoon) oder Breakthrough (ICED) entwickelt.
- Im Bereich der Hochschulbildung werden online immer häufiger sogenannte Massive Open Online Courses(MOOCs) als besondere Form der Fortbildung und Erweiterung von Fähigkeiten und Wissen von Universitäten, internationalen Organisationen und Forschungsinstituten angeboten, für die sich Menschen überall auf der Welt in Kurse aus den unterschiedlichen Disziplinen und Fächergruppen einschreiben können. Im Bereich Menschenrechte, wie auch in den anderen angebotenen Fächergruppen, wird der überwiegende Anteil der Online-Kurse auf Englisch und zum Erwerb eines Zertifikats kostenpflichtig angeboten.
Die aufgeführten Beispiele für onlinebasierte Lern- und Bildungsformate zeigen, dass Menschenrechtsbildung durch neue Technologien zu diversen Themen über Grenzen hinweg verfügbar ist und der Zugang zu diesen durch das Internet erleichtert wird. Die öffentlichen Statistiken über Installationen, Spieler*innen und eingeschriebene Personen sowie Kommentare und online-Bewertungen der E-Learning Programme deuten zudem darauf hin, dass diese Formate von einem wachsenden Personenkreis genutzt werden.
Herausforderungen und Spannungsfelder
Die neuen eLearning-Angebote im Bereich Menschenrechtspolitik erweitern nicht nur den Zugang durch Zeit-, Ort- und Situationsunabhängigkeit, sondern ermöglichen prinzipiell auch lebenslanges Lernen. Für junge Menschen, die mit digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien aufgewachsen sind („Digital Natives“) können die neuen Formate ein Bildungsangebot sein, das näher an ihrer Lebensrealität ist und nebenbei zur Ausbildung technischer Qualifikationen dient, die gesellschaftlichen Teilhabe erleichtert notwendig ist. Forschung zu eLearningunterstreicht zudem,
- dass dadurch die Qualität der Lernerfahrungen besser werden kann (Garrison 2011);
- eLearning eine Chance für Nutzer*innen und Bildungsanbieter ist, um auf globalen Wettbewerb zu reagieren (Anderson 2008);
- eLearning kosteneffizienter als andere Bildungsformate ist (Twigg 2013);
- und weniger Zugangsbarrieren bestehen (Bates 2005).
Grundsätzlicher Vorteil sind die vereinfachten Möglichkeiten für internationale Interaktion und Kommunikation bei offenen Zugriff auf online-basierte Lernplattformen. Aber durchaus auch die transparente Zurechenbarkeit von Lerninhalten (Accountability).
Gleichzeitig bedeutet die Verfügbarkeit digitaler Informations- und Kommunikationstechnik (ICT) nicht automatisch mehr oder qualitativ bessere Menschenrechtsbildung oder gar gesellschaftliche Teilhabe. Die PISA-Studie von 2015 unterstreicht, dass sich sozio-ökonomisch bedingte Bildungsunterschiede in der Gesellschaft auch bei der Nutzung von ICT im Bildungssystem widerspiegeln (OECD 2015a). Es muss deshalb gefragt werden, wer von digitalen Bildungsangeboten nicht profitiert. Welche Personen haben keinen Zugang? Die Studie „Students, Computers and Learning. Making the connection“ weist darauf hin, dass ohne solide naturwissenschaftliche und literarische Grundkenntnisse die meisten digitalen Bildungsangebote nicht zielführend genutzt und umfänglich ausgeschöpft werden können (OECD 2015b). Digitale Bildungsangebote werden zumeist individuell ausgewählt, was bei potenziell abnehmendem direkten Kontakt zwischen Lehrenden und Lernenden und einer durchaus zu beobachtenden abnehmenden Regulierung des Curriculums komplexes Lernen und inhaltliches Verständnis nicht unbedingt erleichtert. Die oben angeführten Beispiele für eLearning haben außerdem gezeigt, dass diese vor allem auf Englisch und von namhaften Bildungseinrichtungen aus dem globalen Norden angeboten werden. Kritiker*innen sprechen daher von einer zunehmenden hegemonialen Monopolisierung von Bildungsinhalten, Schwerpunktsetzungen im Curriculum, Serviceangeboten sowie verstärkter technologischer und pädagogischer Uniformität.
Die Erklärung der Vereinten Nationen über Menschenrechtsbildung und -training bekräftigt, dass Staaten die Hauptverantwortung für die Förderung und Bereitstellung von Menschenrechtsbildung tragen, “die in einem Geist der Partizipation, Inklusion und Verantwortung zu entwickeln und umzusetzen ist” (Artikel 7). Gleichzeitig werden eLearning-Angebote zunehmend von privaten Anbieter*innen zur Verfügung gestellt, was ein paralleles Konkurrenzangebot zu den staatlichen Dienstleistern darstellt. Hierbei kann es zu einer Verschiebung der Bildungskosten auf die Lernenden kommen, was wiederum gesellschaftliche Ungleichheiten und neoliberale Logiken sowie den individuellen Druck nach Selbstoptimierung in lebenslangem Lernen verstärkt. eLearning kann somit auch die Gefahr der Kommerzialisierung von Lehre und Lernen verstärken. Zudem ist im Gegensatz zu klassischen Bildungsformaten bei der Nutzung von blended-Learning insbesondere der Schutz der Privatsphäre eine Herausforderung. Staaten bzw. deren öffentliche Institutionen haben eine menschenrechtliche Verantwortung (Accountability), jedoch können private, unternehmerische oder zivilgesellschaftliche Anbieter von eLearning-Formaten nach bisherigem internationalen Recht nicht für diskriminierende Praktiken oder (Daten-)Missbrauch zur Rechenschaft gezogen werden.
Abschließend lässt sich feststellen, dass Menschenrechtsbildung in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich weiterentwickelt und im formellen und informellen Bildungssektor verbreitet wurde und heute als eigenständiges Menschenrecht diskutiert wird. Die Herausforderungen haben sich dabei im Kontext neuer digitaler Informations- und Kommunikationstechnologien deutlich verändert. Das betrifft auch Anforderungen an Wissens- und Kompetenzziele (z.B. Mediensensibilität) und an eine kritische Auseinandersetzung mit Technik (z.B. Technikfolgenabschätzung, Industrialisierung 4.0). Die wesentlichen Chancen und Herausforderungen fasst Tabelle 1 noch einmal zusammen.
Tabelle 1: Das Recht auf Bildung im Kontext neuer digitaler Informations- und Kommunikationstechnologien: Chancen und Herausforderungen der Menschenrechtsbildung
Chancen | Risiken | |
Zugänglichkeit (accessibility) | Lebenslanges Lernen
| Zugangsbarrieren
|
Adaptierbarkeit (adaptability) | Vielfältiges Lernen
| Internationale Anpassung
|
Verfügbarkeit (availability) | Große Reichweite
| Einschränkungen
|
Angemessenheit (adequacy) | Bildungswettbewerb
| Kommerzialisierung der Lehre
|
Fazit
Eine erste kritische Reflexion über den aktuellen Trends zur Digitalisierung der Menschenrechtsbildung zeigt, dass eLearning und der Einsatz digitaler Medien zur Menschenrechtsbildung nicht automatisch auch eine qualitative Verbesserung des Lernangebots bedeuten muss. Es gibt durchaus ernstzunehmende Bedenken, problematische Risiken und vor allem zahlreiche offene Fragen.
Weitere und umfangreichere Studien, insbesondere empirische Untersuchungen zur aktuellen Situation und Nutzung von eLearning-Angeboten, sind notwendig, um a) Qualitätsstandards entwickeln zu können sowie b) bestehende Angebote kontinuierlich entlang technologischer Innovationen aber auch entlang medienpädagogischer Erkenntnisse weiterentwickeln zu können. Mit Blick auf die normativ wünschenswerte und auch emanzipatorische Bedeutung einer für jeden Menschen zugänglichen Menschenrechtsbildung, gilt es zudem c) die notwendigen politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen zu erforschen, die ein qualitativ hochwertiges und in jeglicher Hinsicht barrierefreies (öffentliches) Angebot gewährleisten können.
Quellen
[1] Anderson, Terry. 2008. The Theory and Practice of Online Learning. Athabasca University Press.
[2] Bates, Tony. 2005. Technology, E-Learning and Distance Education. Routledge.
[3] Garrison, D. Randy. 2011. E-Learning in the 21st Century: A Framework for Research and Practice. Taylor & Francis.
[4] OECD. 2015a. „Country Note GERMANY – PISA 2015“. Paris: OECD.
[5] OECD. 2015b. Students, Computers and Learning. Making the connection. Paris: OECD Publishing.
[6] Sekretariat der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der BRD. 2008. „Menschenrechtsbildung in der Bundesrepublik Deutschland. Länderumfrage des Sekretariats zur Erstellung eines nationalen Berichts im Rahmen des Aktionsplans der Vereinten Nationen für das Weltprogramm zur Menschenrechtsbildung“. Bonn: Konferenz der Kultusminister der Länder in der BRD.
[7] Twigg, C. 2003. „Improving Learning and Reducing Costs: New Models for Online Learning“. Educ. Rev. 38 (Januar).
[8] Twigg, Carol A. 2013. „Improving Learning and Reducing Costs: Outcomes from Changing the Equation“. Change: The Magazine of Higher Learning 45 (4): 6–14.
Über die Autor*innen
Dr. Ulrike Zeigermann ist Politikwissenschaftlerin mit den Forschungsschwerpunkten Menschenrechte und vergleichende Politikfeldanalyse an der Schnittstelle von Sicherheit und Entwicklung. Bevor sie an die Friedensakademie Rheinland-Pfalz kam, promovierte Ulrike Zeigermann an der Westfälischen Universität Münster und leitete am Centre Marc Bloch in Berlin die Forschungsgruppe „Staatliches Handeln und Wissenszirkulation“. Seit November 2017 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Nachhaltige Entwicklung der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.