Gewaltfreiheit weiter denken in der kolonialen Moderne: Herausforderungen und Ressourcen der Friedensbildung

Von Claudia Brunner

Gewalt und Wissen(schaft), Gewalt und Bildung, so scheint es, haben nichts miteinander zu tun. Dort, wo Gewalt analysiert und theoretisiert wird, scheint Gewalt nicht zu sein. Schon gar nicht in der Friedensforschung oder gar der Friedensbildung. Mit dem Konzept der epistemischen Gewalt können wir diesem Zusammenhang nachgehen. Daraus folgen einige Herausforderungen in der Friedensbildung und verwandten Feldern emanzipatorischer Bildungsarbeit, die zugleich auch Ressourcen für diese Gratwanderung der Hegemonieselbstkritik bereitstellt.1

Gewalt ist (nicht nur): anderswo, anderswer, anderswas

Ausgehend von einem meist auf direkte und körperliche Verletzung fokussierten Verständnis von Gewalt gilt das Feld der Wissensproduktion als gewaltfrei sowie als ein Ort, von dem aus Gewalt überwunden und Gewaltfreiheit in die Welt gebracht werden kann. Gerade in der Friedensforschung und Friedensbildung. Vielfältig, dynamisch und oft auch mehrdeutig sind die Phänomene selbst, die wir mit Gewalt bezeichnen, sowie die Vorstellungen davon, was Gewaltfreiheit bedeutet. Allzu oft geraten dabei moralische, politische, disziplinäre und analytische Zugänge durcheinander. Unberücksichtigt, unterkomplex oder nur am Rande erwähnt bleiben zumeist strukturelle, kulturelle, symbolische, kulturelle, normative und epistemische Gewalt. Diese sind eng miteinander sowie mit direkter physischer Gewalt verwoben, und ihre Theoretisierung stellt eine wichtige Ressource für Friedensforschung und Friedensbildung dar. Auch Gewaltfreiheit, so mein Argument, muss ausgehend von einem weiten Verständnis gedacht werden, das unterschiedliche Formen von Gewalt berücksichtigt. Wenn man zugleich auch die Dimension des Wissens ausgehend vom Konzept der kolonialen Moderne denkt, vertieft und bereichert ein solcher Zugang auch die Auseinandersetzung um aktive Gewaltfreiheit. Diese ist in der Friedensbildung von großer Bedeutung, wird aber zumeist als gegeben vorausgesetzt. Zugleich scheint Gewaltfreiheit als gesellschaftliche Praxis und als theoretische Herausforderung im Zuge der Professionalisierung und Institutionalisierung der Friedensforschung in Vergessenheit zu geraten. 

Das Konzept der epistemischen Gewalt stellt ein hilfreiches Werkzeug zu einer kritischen Revision des Verständnisses von Gewaltfreiheit (als gesellschaftliches Ziel oder Selbstzuschreibung), Gewaltlosigkeit (als individuelle oder vermeintlich kulturelle Errungenschaft) oder auch nur Gewaltverzicht (als situative Entscheidung in Konfliktsituationen) dar. In den 1970er Jahren hat der französische Philosoph Michel Foucault [1] den Begriff epistemische Gewalt als Teil seiner Machttheorie geprägt, von der indisch-US-amerikanischen Literaturtheoretikerin Gayatri Spivak [2] wurde er wenig später im globalen postkolonialen Zusammenhang von Wissens- und Gewaltverhältnissen präzisiert. Seit bald 40 Jahren sind Begriff und Konzept also in der Welt. Friedensforschung und Friedensbildung nutzen diesen Ansatz hingegen erst seit der allmählich stärker werdenden Rezeption feministisch-postkolonialer sowie dekolonialer Debatten aus dem Globalen Süden. Doch was ist epistemische Gewalt, und wie wirkt sie?

Epistemische Gewalt

Der Begriff epistemische Gewalt stellt die Trennung von Wissen und Gewalt in Frage, ebenso wie die quasi-automatische Verknüpfung von Wissenschaft mit Gewaltfreiheit. Er bezeichnet jenen Beitrag zu Ungleichheits-, Macht- und Herrschaftsverhältnissen, der dem Wissen selbst innewohnt und für die Analyse eben dieser Verhältnisse unsichtbar geworden ist. Er stellt zur Diskussion, welche Funktionen insbesondere wissenschaftliche Wissensproduktion – die gemeinhin als gewaltfrei und gewaltüberwindend gilt – hinsichtlich der Etablierung und Aufrechterhaltung von Gewaltverhältnissen in einer von globaler Ungleichheit geprägten Welt erfüllt. Damit sind nicht nur machtvolle Institutionen und Praktiken der Wissensproduktion gemeint, die ausschließend und hierarchisierend wirken, wie etwa Rassismus, Klassismus und Sexismus. Es geht um die mit diesen Dimensionen verwobenen methodologischen, theoretischen und epistemologischen Grundlagen des Wissens selbst. Wessen Wissen und welches Wissen wird gehört, gezählt, gewürdigt? Wessen und welches Wissen scheint niemals der Erwähnung, der Kanonisierung oder der Verallgemeinerung wert? Diese Grundlagen sind aufs Engste mit Herrschafts- und Gewaltverhältnissen ganz konkreter, manifester Art verwoben. 

Wissen und Gewalt müssen in diesem Zusammenhang analysiert und auch theoretisiert werden, so mein Argument. Wir müssen das vermeintlich Selbstverständliche und Eindeutige, Gewalt, differenzierter und weiter denken, und das vermeintlich Abstrakte, Epistemologie, also das Nachdenken über das Wissen selbst, in unserer ganz konkreten Lebenswelt identifizieren und mit unterschiedlichen Formen von Gewalt in Beziehung setzen. Ausgehend vom Begriff epistemischer Gewalt gilt es Fragen zu stellen und zu diskutieren, die nicht nur für unser Verständnis von Gewalt, sondern auch für jenes von Gewaltfreiheit, Gewaltlosigkeit und Gewaltverzicht relevant sind. Daraus können keine einfachen Antworten resultieren. Vielmehr führt diese Perspektive auf die Tatsache zurück, dass um diese wichtigen politischen Ziele und Praktiken immer – und auch konzeptionell – gerungen werden muss. 

Den Begriff epistemische Gewalt zur Analyse und Kritik globaler Macht-, Herrschafts- und Gewaltverhältnisse zu benutzen bedeutet dabei nicht, direkte Gewalt zu ignorieren oder gar zu relativieren. Diesen Vorwurf musste sich schon Johan Galtung, dem wir das breite Verständnis struktureller Gewalt verdanken, hinsichtlich seines weiten Gewaltverständnisses gefallen lassen. Die Thematisierung epistemischer Gewalt ermöglicht vielmehr eine Relationierung, also ein zueinander in Beziehung Setzen von vermeintlich Unzusammenhängendem. Die Aufmerksamkeit gegenüber epistemischer Gewalt schärft den Blick auf den Zusammenhang zwischen dem Wissen und dem Ort seiner Entstehung einerseits und den zur Diskussion stehenden konkreten Gewaltphänomenen andererseits. Letztere gilt es in all ihrer Vielschichtigkeit zu analysieren und zu kritisieren. Dafür reicht ein simpler Gewaltbegriff nicht aus, der zwar potenziell vieles meint, meistens aber auf direkte physische Gewalt fokussiert bleibt. Diesen Zusammenhang zwischen Wissens- und Gewaltverhältnissen nur als Problem der Gegenwart zu verstehen, verkürzt die Analyse und schmälert die Kraft friedensforschender und friedenspädagogischer Kritik. Aus post- und dekolonialer Perspektive liegt es vielmehr nahe, unsere Institutionen und Traditionen der Wissensproduktion in ihrem historischen Entstehungskontext zu verorten. Dies gilt insbesondere für hegemoniales wissenschaftliches Wissen sowie für jenes, das mit autoritativem Gestus auftritt, um marginalisierte Perspektiven zu delegitimieren. Anstatt beständig von Aufklärung und wissenschaftlichem Fortschritt in der Moderne zu sprechen, sollten wir davon ausgehen, dass die Anfänge des gegenwärtigen kapitalistischen Weltsystems samt seinen Wissenschaften, Epistemologien und Lebensweisen nicht nur in den letzten 200 Jahren industrieller, politischer und sozialer Revolution liegen. Diese Anfänge einer globalen Transformation sind nicht lediglich in widerständigen Kämpfen um Fortschritt und Demokratisierung begründet, sondern auch in massiven Vernichtungsprozessen, die noch 300 Jahre älter sind und ihren Ursprung ebenfalls auf dem angeblich so friedliebenden europäischen Kontinent haben: in der kolonialen Expansion Europas, die die Welt im globalen Maßstab verändert hat und bis heute prägt.

Kolonialität

Insbesondere Autor*innen aus dem sogenannten Globalen Süden argumentieren, dass wir auch nach dem formalen Abschluss der gewaltvollen politischen Dekolonisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einem anhaltenden Zustand der Kolonialität leben. Diese Kolonialität, so das Argument, bildet die konstitutive Unter- oder Kehrseite der Moderne, die daher koloniale Moderne genannt wird. Post- und dekoloniale Stimmen verweisen darauf, dass die heute globale Durchsetzung des Kapitalismus eng mit dem europäischen Projekt des Kolonialismus verwoben ist, welches die Welt 500 Jahre lang geprägt und Auswirkungen bis in die Gegenwart hat. Bei dieser Analyse und Kritik von Ungleichheits- und Gewaltverhältnissen im globalen Maßstab nimmt die Dimension des Wissens eine zentrale Funktion ein, weil auch dieses – eurozentrische – Wissen als konstitutiver Bestandteil der kolonialen Moderne verstanden wird. Daraus folgt die Forderung, jegliche Form von Macht, Herrschaft und Gewalt in diesem Kontext der anhaltenden Kolonialität und somit auch in ihrer epistemischen Dimension zu analysieren. Rassismus, Sexismus, global asymmetrische Klassenverhältnisse und zahlreiche weitere soziale Platzanweiser sind dann nicht mehr nur politische Missstände, denen man mit einem humanistischen Universalismus und entsprechenden Politiken und friedenspädagogischen Praktiken begegnen kann. Vielmehr konstituieren sie tiefliegende epistemologische Voraussetzungen für unser Handeln, unser Denken, unser Sein. Nicht zuletzt über diese wissenschaftstheoretische Reflexion wird deutlich, dass die Moderne in der behaupteten Linearität, Fortschrittlichkeit, Aufgeklärtheit, zivilisatorischen Überlegenheit und daraus resultierenden Gewaltfreiheit – oder zumindest die Annahme einer genuinen Befähigung zur Reduktion und Überwindung von Gewalt – vor allem eines ist: ein machtvoller Mythos, der die gewaltsamen Prozesse der kolonialen Moderne selbst unsichtbar macht, beschönigt und legitimiert. Dies gilt auch für das Feld der Friedensbildung und verwandter politischer Pädagogiken. Der Dimension des Wissens, die in den meisten Analysen von Gewalt sowie in Konzepten von Gewaltfreiheit vernachlässigt wird, kommt in der Entstehung und Tradierung dieses hartnäckigen Mythos eine zentrale Funktion zu. Sie muss daher auch bei dessen Dekonstruktion verstärkt Berücksichtigung finden.

Gewaltfreiheit weiter denken

Ausgehend von diesen Überlegungen sollten wir also auch über Gewaltfreiheit, Gewaltlosigkeit und Gewaltverzicht erneut und vertieft nachdenken, und sie nicht als Selbstverständlichkeit der Friedensbildung und verwandter Ansätze voraussetzen. Denn wenn Gewalt nicht nur anderswo, anderswer und anderswas ist, wenn sie nicht selbstverständlich jenseits von Wissen(schaft) verortet werden kann, sondern über die Naturalisierung von Macht-, Gewalt- und Herrschaftsverhältnissen auch in unseren Ressourcen und Praktiken des Wissens abgelagert ist, so folgt daraus, dass epistemische Gewalt potenziell auch dort ist, wo man sich um die Vermeidung und Überwindung von Gewalt bemüht. Sich einfach von Gewalt loszusagen und nicht nur physische, sondern auch epistemische Gewaltlosigkeit für das eigene Denken und Handeln zu beanspruchen, ist auf dem von Rolando Vázquez [3] so genannten epistemischen Territorium der Moderne ebenso wenig möglich wie man sich struktureller, symbolischer, kultureller oder normativer Gewalt vollständig entziehen kann. Für Friedensforschung und Friedensbildung stellt diese Erkenntnis eine enorme Herausforderung dar. Ausgehend von einer darauf basierenden produktiven Verkomplizierung der Frage nach Gewalt und Nicht-Gewalt werfen sich nämlich einige Fragen für ein lebendiges Weiterdenken aktiver Gewaltfreiheit auf, die gerade in der Friedensforschung und Friedensbildung intensiv diskutiert werden sollten:

Wenn auch unser Denken von einer in vielerlei Hinsicht gewaltdurchdrungenen Kolonialität geprägt ist, wie kann aktive Gewaltfreiheit dann überhaupt gedacht und vor allem praktiziert werden? Ist so etwas wie strukturelle, symbolische, kulturelle oder gar epistemische Gewaltfreiheit überhaupt vorstellbar oder gar realisierbar? Stellt sie ein normatives Ideal und eine produktive Utopie dar, oder lediglich eine Illusion, die angesichts allgegenwärtiger und zahlreicher Formen von Gewalt verabschiedet werden muss? Oder handelt es sich bei aktiver Gewaltfreiheit womöglich um etwas, das ausgerechnet unter Inkaufnahme von – epistemischer – Gewalt erreicht werden kann? Und was hätte dies dann mit Gewaltfreiheit in jenem Sinne zu tun, die Freiheit von möglichst allen Formen von Gewalt meint und immer auch deren direkte und physische Erscheinungsformen vor Augen hat? Wie kann aus der Erkenntnis und Analyse der Allgegenwart von Gewalt eine Ressource werden, um sich ihren unterschiedlichen Formen zu widersetzen? Was bedeutet es, sich selbst als in Gewaltverhältnisse unterschiedlicher Art verstrickt zu verstehen? Welche intellektuellen, politischen und persönlichen Grenzverschiebungen gehen damit möglicherweise einher? Was muss daher in den Theorien aktiver Gewaltfreiheit ebenso wie hinsichtlich ihrer Praktiken problematisiert und revidiert, und woran soll und kann festgehalten werden? 

(Friedens)Bildung: Was tun? Was nun?

Diese sehr grundsätzlichen Fragen werfen zahlreiche Widersprüche, Herausforderungen und Hindernisse auf, die zugleich Chancen für eine stärkende Erneuerung im Feld der Friedensbildung und verwandter Ansätze kritischen Lernens und Lehrens sein können. Diese Ansätze sind – wie alle anderen Wissensbestände auch (wenngleich in durchaus unterschiedlichem Maße und mit unterschiedlichem Problembewusstsein) – geprägt vom Andro- und Eurozentrismus, vom Logozentrismus, der linearen Zeitlichkeit und des Entwicklungsparadigmas der kolonialen Moderne. Daraus folgt notwendigerweise, dass auch Friedensbildung auf dem epistemischen Territorium der kolonialen Moderne agiert, von dem sie sich nicht einfach lossagen kann, sondern mit dem sie zu ringen hat. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass auch kritische Ansätze der Bildungsforschung und Bildungspraxis der zunehmenden Kommodifizierung des Bildungssektors unterworfen sind, was die oben genannten Probleme noch verschärft.

Im vergangenen Jahr (2021) habe ich anlässlich einiger interdisziplinärer Vortragseinladungen mit dem Fokus auf (Friedens)Bildung vorläufige untenstehende Überlegungen artikuliert, mit denen ich meine Beschäftigung mit epistemischer Gewalt und der Kolonialität von Macht, Wissen und Sein für diesen Kontext nutzbar zu machen versuche. Als interdisziplinär arbeitende Politikwissenschaftlerin, die seit etwa 10 Jahren in der Friedensforschung tätig, im Feld der Friedensbildung jedoch keineswegs systematisch eingearbeitet ist, möchte ich betonen, dass meine Überlegungen sich aus genau dieser Position einer interessierten Nachbar*innenschaft, Kollegialität oder Verwandtschaftsbeziehung heraus entwickelt haben. Ein- und Widersprüche sind also sehr willkommen, gerade auch auf diesem Blog. Je mehr Diskussion, umso besser im Sinne eines zu beschreitenden Weges kritischer Friedensbildung, die sich dem oft widersprüchlichen und unbequemen Verhältnis von Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne beschäftigten will. Ein Weg entsteht, indem man ihn geht – am besten mit kritischen Wegbegleiter*innen… 

Herausforderungen der Friedensbildung:

  • Friedensbildung muss die Implikationen der Kolonialität eines humanistischen Universalismus (an)erkennen, der Frieden verheißt und zugleich in Friedlosigkeit verstrickt ist.
  • Friedensbildung muss ihr bisweilen essenzialistisches Verständnis von Kultur und Interkulturalität einer rassismuskritischen Revision unterziehen.
  • Friedensbildung muss sich der Weiterentwicklung eines neoliberal anschlussfähigen diversitätsorientierten Paradigmas hin zu einer herrschaftskritischen Perspektive der Intersektionalität widmen.
  • Friedensbildung muss den Erfolgsdruck individueller ‚Besserung‘ oft kulturalisierter Subjekte abwehren, um strukturelle Faktoren glokaler Gewaltverhältnisse vor dem Hintergrund eines (nicht nur) epistemischen Rassismus/Sexismus/Klassismus besser adressieren zu können.
  • Friedensbildung muss den Fokus auf interpersonale Konflikte und individuelle Handlungsspielräume in Anerkennung der anhaltenden kolonialen Moderne in einen globalen Kontext multipler Gewaltverhältnisse und Herrschaftsordnungen stellen.
  • Friedensbildung muss sich vom positivistischen Empirismus gegenwärtiger verengter Anwendungsorientierung verabschieden und sich unter Rückbesinnung auf ihre theoretischen Grundlagen und deren Weiterentwicklung wieder stärker ihrer gesellschaftskritischen Tradition und Funktion bewusstwerden.
  • Friedensbildung muss den Mythos der eigenen Gewaltfreiheit hinterfragen und sich über die potenzielle eigene Verstrickung in Herrschaftsverhältnisse und die Verinnerlichung ihrer vermeintlichen Normalität klarwerden.

Ressourcen der Friedensbildung:

  • Friedensbildung ist aufgrund ihres überwiegend normativ-kritischen Selbstverständnisses ein geeignetes Terrain, um gegen herrschaftsstabilisierende Anrufungen und (An)Ordnungen Ein- und Widerspruch zu erheben.
  • Friedensbildung verfügt über vielstimmige Erfahrung und didaktische Professionalität, um Ressourcen außerhalb des vermeintlich rein Kognitiv-Rationalen für kritische Bildungspraxis nutzbar zu machen.
  • Friedensbildung hat das Potenzial, die Regeln des Artikulierbaren und der Hörbarkeit marginalisierter und kritischer Stimmen neu zu schreiben, wenn sie sich diesen Perspektiven wieder weiter öffnet und ihre eigenen herrschaftskritischen Wurzeln wiederentdeckt.
  • Friedensbildung ist dazu geeignet, die historische Verstrickung von Bildungsinstitutionen in organisierte Gewaltpolitiken und Herrschaftssysteme zu thematisieren und daraus Lehren für eine gewaltärmere Gegenwart zu ziehen.
  • Friedensbildung kann sich mit sozialen Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Initiativen auf lokaler und globaler Ebene verbünden, um Transformationsprozesse erfahrbar zu machen sowie von und mit ihnen zu lernen.
  • Friedensbildung ist in der Lage, Formen der Selbstorganisierung und der antiautoritären Bildungspraxis zu fördern und zu begleiten.
  • Friedensbildung kann plausibel machen, dass es sich bei ihrer Agenda um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe handelt, die im globalen Maßstab und in bisweilen auch notwendiger Widersprüchlichkeit ausgestaltet werden muss.

 

UnDoing Epistemic Violence

Auch die reflektierteste Friedensbildung findet auf dem epistemischen Territorium der kolonialen Moderne statt. Damit hat sie auch Anteil an epistemischer Gewalt, die an der Aufrechterhaltung bestehender Herrschaftsverhältnisse beteiligt ist. Zugleich ist Friedensbildung auch ein guter Ort, um sich der Ausmaße der anhaltenden Kolonialität gewahr zu werden, Hegemonieselbstkritik zu üben, darauf aufbauende Herrschaftskritik in Theorie und Praxis der Friedensbildung zu artikulieren sowie Potenziale und Grenzen ihrer potenziellen Dekolonisierung auszuloten. Dass es dabei weder schnelle noch einfache Lösungen geben kann, liegt auf der Hand. Auch müssen Privilegien verlernt und Widersprüche (an)erkannt werden. Eine auf post- und dekolonialen sowie feministischen und antirassistischen Ansätzen basierende Auseinandersetzung mit der Prozesshaftigkeit, Relationalität und Vielschichtigkeit von Gewaltkann auch im Feld der (Friedens)Bildung und der Wissensproduktion dazu beitragen, ein vertieftes Verständnis von Gewaltverzicht, Gewaltlosigkeit und Gewaltfreiheit zu entwickeln. Sich dies in aller Widersprüchlichkeit zur Aufgabe zu machen, kann zu einer Stärkung intersektionaler und herrschaftskritischer Friedensbildung und mit ihr verwandter Theorien und Praktiken beitragen.

Ressourcen zur Bearbeitung der (Un)Möglichkeiten einer Dekolonisierung von Friedensbildung und verwandter Wissens- und Praxisfelder

Literatur zu epistemischer Gewalt und Gewaltfreiheit in der kolonialen Moderne

 

Fußnoten

1 Danke an Joschka Dreher und Melanie Hussak für Korrekturen und Anmerkungen.

Literatur

[1] Michel Foucault (1973): Archäologie des Wissens. Suhrkamp, Frankfurt am Main. Übersetzung des 1969 erstmals auf Französisch erschienenen Texts.

[2] Gayatri Chakravorty Spivak (2008): Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subaltern Artikulation. Turia + Kant, Wien. Übersetzung des 1988 erstmals auf Englisch erschienenen Texts mit einem Vorwort von Hito Steyerl.

[3] Rolando Vázquez (2011): Translation as Erasure. Thoughts on Modernity’s Epistemic Violence. In: Journal of Historical Sociology 24 (1): 27-44.

 

Über die Autor*innen

Claudia Brunner ist Sozialwissenschaftlerin und Professorin am Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung am Institut für Erziehungswissenschaften und Bildungsforschung der Universität Klagenfurt. Für (überwiegend frei zugängliche) Texte, Vorträge und sonstige Informationen siehe www.epistemicviolence.info.