Frieden gestalten – aber wie? Macht und Ungleichgewichte im Fokus

von Dr. Samantha Ruppel

Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Gewalt. Diese Erkenntnis ist nicht neu, klingt fast banal, und ist doch hochpolitisch. Denn wie Frieden gedacht und umgesetzt wird, ist nie neutral. Es geht um Macht, um Deutungshoheit, um Sichtbarkeit – und letztlich um Gerechtigkeit. Wer Frieden gestaltet, gestaltet auch gesellschaftliche Verhältnisse. Und genau deshalb lohnt es sich, einen genauen Blick darauf zu werfen, wie aktuelle Friedensprozesse funktionieren – und wo sie an ihre Grenzen stoßen. Genau hier setzt der Blogbeitrag an, durch eine zunächst theoretische Betrachtung, welche im Anschluss durch Beispiele konkretisiert wird.[1]

Von einem Masterplan mit blinden Flecken hin zu frictions

Seit den 1990er Jahren dominiert das Modell des sogenannten liberalen Friedens die internationale Praxis. Es folgt einem klaren Drehbuch: Demokratie führt zu Frieden, Marktliberalisierung fördert Stabilität, internationale Institutionen sichern Kooperation. Klingt plausibel. Doch in der Praxis zeigt sich: Was auf den ersten Blick plausibel erscheint, zeigt bei näherer Betrachtung erhebliche Schwächen – besonders dort, wo globale Normen auf zum Teil abweichende lokale Realitäten treffen. Denn Frieden lässt sich nicht verordnen. Und schon gar nicht standardisieren.

In der Praxis zeigt sich: Demokratisierung ist oft ein von außen angestoßener Prozess – top-down, standardisiert, und häufig losgelöst von lokalen Dynamiken. Marktliberalisierung, etwa in Form von IWF-Programmen, führt in fragilen Kontexten nicht selten zur Verschärfung sozialer Ungleichheiten und internationale Institutionen wie die Vereinten Nationen oder Weltbank spiegeln in ihrer Funktionsweise oft globale Machtasymmetrien wider, anstatt sie zu überwinden. 

Was als universell gültig verkauft wird, ist in Wahrheit ein normativ geprägter Entwurf westlicher Regierungslogiken. Richmond spricht deshalb von einem „Peace from IKEA“ – ein standardisiertes, vorgefertigtes Paket, das einfach über lokale Realitäten gestülpt wird.

Doch was passiert, wenn dieser metaphorische Bausatz in der Realität ankommt? Es kommt zu Spannungen – zu frictions: Reibungen, die entstehen, wenn globale Konzepte auf lokale Kontexte treffen. Diese Reibungen sind nicht bloß technische Probleme, sondern drücken sich in politischen und auch personellen Konflikten aus.

Ein Beispiel: In einem ländlichen Kontext wird ein Gender-Workshop mit internationalen Mitteln organisiert, um die Friedensbildung vor Ort zu fördern. Die Begriffe „Empowerment“ oder „Gender Mainstreaming“ sind aus Sicht der Organisator*innen zentral. Doch sie stoßen auf Unverständnis – nicht, weil die Themen unwichtig wären, sondern weil die Sprache, die damit verbunden ist, keine Resonanz findet. Statt Dialog entstehen Missverständnisse. Hinzu kommt eine Form von epistemischer Gewalt: Lokales Wissen – etwa indigene Praktiken der Konfliktbearbeitung – wird als „nicht professionell“ abgetan. Nur wer das richtige Vokabular spricht, wird gehört. Wer andere Wege geht, wird schnell marginalisiert. Frieden wird so nicht gemeinsam ausgehandelt, sondern vorgegeben – von außen, von oben, von Expert*innen. 

Frieden und Macht – eine unbequeme Wahrheit

Friedensarbeit ist nie machtfrei. Wer Frieden gestaltet, trifft Entscheidungen: über Ziele, über Methoden, über Sprache. Macht zeigt sich dabei nicht nur offensichtlich – etwa in der Budgetvergabe oder Programmplanung. Sie wirkt auch subtil: durch Indikatoren, durch Projektlogiken, durch scheinbar technische Fragen.

In internationalen Friedensprozessen zeigt sich häufig ein klares Machtgefälle: Organisationen aus dem Globalen Norden verfügen über Ressourcen, Personal und Expertise. Sie bringen Projektmittel, Evaluationskriterien und Zielvorgaben mit. Lokale Organisationen im Globalen Süden hingegen übernehmen oft die Rolle der Implementierungspartner*innen. Sie sind es, die Programme vor Ort umsetzen – aber nicht unbedingt gestalten. Damit einhergehend spielt die epistemische Gewalt eine große Rolle. Wer definiert was Frieden ist und was dazu gehört? Ich greife hier auf Gayatri Chakravorty Spivak zurück, die in ihrem berühmten Essay fragt: „Can the subaltern speak?“ Die Antwort: Nur eingeschränkt. Lokale oder subalterne Stimmen haben oft keinen Zugang zu den dominanten Diskursen. Selbst wenn sie sich äußern, werden ihre Sichtweisen nicht verstanden oder nicht anerkannt. Diese Form epistemischer Gewalt manifestiert sich in internationalen Missionen, wo westliche Fachkräfte als „Expert*innen“ gelten, während lokales Wissen als rückständig oder irrelevant abgetan wird. Die strukturelle Folge: Frieden wird nicht ko-produziert, sondern verordnet.

Diese Asymmetrien werden häufig unter dem Begriff „Partnerschaft“ kaschiert – ein Begriff, der die Intention einer Privilegien-Abgabe ausdrückt, aber in der Praxis oft nicht eingelöst wird. Es handelt sich häufig um das, was ich in meiner Forschung als rhetorische Partnerschaft bezeichne: ein symbolischer Rahmen, der Gleichheit suggeriert, aber reale Machtungleichgewichte verschleiert.

Ein einfaches Beispiel: Ob ein Projektziel als erreicht gilt, hängt oft davon ab, wie es gemessen wird – und wer die Messlatte setzt. Zum Beispiel konnte ich in meiner Forschung an einer Evaluierung eines Projektes in Liberia teilnehmen. Dort sollten für den deutschen Geldgeber die Erfahrungen von Teilnehmenden an Alphabetisierungskursen ausgewertet werden. Die Auswertung sollte mit Hilfe eines vorgefertigten, schriftlichen Fragebogens erfolgen. Ein Messinstrument, an dem Personen die gerade lesen und schreiben lernen nicht teilnehmen können. Das Projekt hätte demnach versagt. Doch die lokale Organisation, die das Projekt vor Ort umsetzte nutze Interviewmethoden, um dann über Dritte die Fragebögen auszufüllen. Somit konnte das Projekt erfolgreich evaluiert werden. Hier wirkt Macht nicht nur repressiv, sondern produktiv: Sie schafft Wirklichkeit – und blendet andere Wirklichkeiten aus.

Friedensarbeit braucht also ein Bewusstsein für Macht. Und dieses Eingebundensein verlangt eine kritische Selbstreflexion: Welche Annahmen bringen wir mit? Welche blinden Flecken prägen unser Handeln? Und welche Stimmen gehen verloren, wenn wir sie nicht aktiv suchen? Ein friedenspolitisches Handeln, das diese Fragen ignoriert, reproduziert bestehende Ungleichheiten – auch wenn es das Gegenteil beabsichtigt. Aber: Wer sich dieser Machtverhältnisse bewusst ist, kann anfangen, sie zu verhandeln, zu öffnen – oder zumindest nicht zu zementieren.

Hybrider Frieden – ein realistischerer Blick

Angesichts dieser Kritik stellt sich die Frage: Wie kann Frieden anders gedacht und gestaltet werden? Der Vorschlag eines hybriden Friedens, bietet eine Alternative. Er versteht Frieden nicht als einheitliches Modell, sondern als Aushandlungsprozess – zwischen lokalen und internationalen Akteur*innen, zwischen formellen und informellen Strukturen, zwischen Normen und Alltag.

Die zentralen Merkmale eines hybriden Friedensverständnisses sind: 

1. Die Anerkennung lokaler Dynamiken. Es ist zu betonen, dass Frieden nicht technokratisch, sondern immer politisch und kontextgebunden ist. Friedensarbeit findet in komplexen sozialen Wirklichkeiten statt, die nicht linear sind und nicht durch standardisierte Maßnahmen ersetzt werden können. Lokale Praktiken der Konfliktbearbeitung – etwa traditionelle Ältestenräte, informelle Verhandlungsmethoden oder Netzwerke zivilgesellschaftlicher Akteur*innen – sind nicht defizitär, sondern tragende Elemente von Friedensprozessen. 

2. Eine Offenheit für Ambivalenz und Widerspruch. Ein hybrider Frieden ist nicht konsistent – und das ist seine Stärke. Unterschiedliche Akteursgruppen verfolgen unterschiedliche Interessen. Lokale Akteur*innen übernehmen manchmal internationale Diskurse, ohne sich ihnen vollständig zu unterwerfen – sie adaptieren, reinterpretieren, widersprechen. Beispiel: Lokale CSOs in Kenia führen Programme im Namen der Friedensförderung durch, passen aber Umsetzung, Sprache und Zielgruppen eigenständig an. Dies führt zu „Frictions“, die kreatives Potenzial entfalten. 

3. Die Reflexion und Aushandlung von Macht. Es zeigt sich deutlich, dass Machtasymmetrien real sind – und nicht durch den Begriff „Partnerschaft“ aufgehoben werden. Doch ein hybrider Ansatz benennt diese Asymmetrien und versucht, sie im Prozess selbst zu verhandeln, z. B. durch lokale Entscheidungsspielräume, gemeinsames Monitoring oder Kontextanpassung. 

Das bedeutet: Frieden entsteht nicht durch Blaupausen, sondern durch Beziehungen. Nicht durch Kontrolle, sondern durch Offenheit.

Wie Friedensräume trotzdem entstehen – drei Beispiele aus der zivilen Friedensarbeit

Wie kann das konkret aussehen? Drei Beispiele aus der Praxis des Zivilen Friedensdienstes (ZFD) in Kenia, Sierra Leone und Liberia zeigen, wie lokale Akteur*innen auch unter schwierigen Bedingungen Friedensräume gestalten:

  1. Friedensvermittler*innen im ländlichen Raum: Ein ZFD-Projekt bildete ehrenamtliche Mediator*innen aus, die Alltagskonflikte – etwa über Landfragen– bearbeiteten. Statt formale Vorgaben durchzusetzen, wurde auf lokale Lösungen gesetzt: Fingerabdruck statt Unterschrift auf der vorgegebenen Anwesenheitsliste des deutschen Geldgebers, Kommunikation in der lokalen Sprache, und eine begleitende Rolle der internationalen Fachkräfte. Das Ergebnis: Vertrauen, Nähe – und ein Frieden, der aus dem Alltag erwächst. Frieden wird in konkreten sozialen Räumen verankert. Machtungleichgewichte sind spürbar, aber sie lassen sich durch bewusste Interaktion aushandeln. Hybride Friedensarbeit bedeutet: Nicht nur Ziele, sondern auch Wege und Werkzeuge werden gemeinsam definiert – mit Offenheit für Brüche, Reibung und Kontext.

  2. Überarbeitung einer Landesstrategie: Obwohl der Prozess der Gestaltung einer Landesstrategie partizipativ angelegt werden sollte, wurde von vielen lokalen Partnerorganisationen kritisiert, dass der Erstellungsprozess stark von Deutschland aus gesteuert wurde. Einige Organisationen hatten kaum Einfluss auf die Inhalte, obwohl sie die Programme später umsetzen sollten. Aus dieser Kritik heraus entstand eine neue Überarbeitungsrunde, bei der in Kleingruppen, durch persönliche Beziehungen die lokalen Partnerorganisationen ihre Perspektiven einbringen konnten. So wurde die Strategie nicht einfach akzeptiert, sondern weiterentwickelt. Dies zeigt, dass Netzwerke nicht nur technische Verbindungen sind, sondern politische Handlungsräume im Kleinen.

  3. Tabuthemen und stille Aushandlung: In einem Projekt zu geschlechtsspezifischer Gewalt baute eine lokale Fachkraft über Jahre Vertrauen in der Gemeinde auf. Sie entschied eigenständig, wie das Thema angesprochen wurde – mit welcher Sprache, in welchem Tempo, mit welchen Methoden. Die internationale Fachkraft unterstützte diskret im Hintergrund durch Projektmittel und Dokumentation, ohne inhaltlich zu steuern. Dieses Arrangement war nicht offiziell so vorgesehen, sondern entstand aus verschiedenen Faktoren. Zum einen hatte die internationale Fachkraft sprachliche Barrieren, zum anderen war eine langsame Annäherung der internationalen Fachkraft an die lokalen Gemeinden von Beginn an geplant. Diese langsame Annäherung wurde in beidseitigem Einverständnis immer weiter in die Ferne gerückt und so wurde die veränderte Rollenkonstellation von beiden Seiten stillschweigend mitgetragen. Dieses Beispiel ist ein klassischer Fall stiller Aushandlung: Die lokale Organisation nutzt bewusst ihre Gestaltungsmacht im Feld, passt Inhalte kontextgerecht an und interpretiert die Projektlogik um, ohne sie offen zu konfrontieren. Dadurch wird Frieden nicht als importierte Vorgabe, sondern als alltägliche Praxis lokaler Navigation und Kontrolle erlebbar. Das ist gelebter hybrider Frieden, jenseits von Idealtypen.

Was wir mitnehmen können

Wir haben nun gesehen: Frieden ist kein Zustand, den man „herstellen“ kann – wie ein Produkt, das sich irgendwo bestellen und dann liefern lässt. Frieden ist ein Prozess, ein Beziehungsgeflecht, ein Raum der Aushandlung – und oft auch ein Ort des Widerspruchs.

Viele internationale Friedensbemühungen folgen noch immer einer Art „Masterplan“ – getragen von guten Absichten, aber geprägt von impliziten Annahmen über Macht, Wissen und Ordnung. Sie gehen davon aus, dass Demokratie, Markt und Institutionen universell wirken – und dabei wird übersehen, dass diese Konzepte nicht überall dieselbe Bedeutung haben und nicht überall dieselbe Wirkung entfalten.

Wir haben über Friktionen gesprochen – über die Reibungen, die entstehen, wenn globale Normen auf lokale Lebenswelten treffen. Diese Reibungen sind nicht das Problem, sondern Teil der Lösung – wenn wir sie ernst nehmen: Sie zeigen uns, wo Friedensarbeit an ihre Grenzen stößt – aber auch, wo neue Wege sichtbar werden.

Und wir haben gesehen, dass lokale Akteur*innen – in Sierra Leone, in Kenia, in Liberia – nicht passiv sind. Sie verhandeln, sie verschieben Bedeutungen, sie gestalten Friedensprozesse – manchmal laut, oft leise. Nicht selten jenseits der offiziellen Projektlogik, in Netzwerken, durch Alltagshandeln, durch stille Aushandlungen.

Der hybride Frieden ist kein Modell für Perfektion. Er ist widersprüchlich, fragmentarisch, unvollständig – aber er ist näher an der Realität. Er schafft Raum für Vielfalt, für Unordnung, für Nicht-Eindeutigkeit – und genau das braucht Frieden:

  • Räume, die nicht kontrolliert, sondern offengehalten werden.

  • Beziehungen, die nicht auf Gleichheit bestehen, sondern mit Asymmetrie umgehen lernen.

  • Prozesse, die nicht abschließen, sondern immer wieder neu beginnen.

Der zentrale Auftrag, den wir daraus mitnehmen, lautet: Zuhören statt Planen. Fragen statt Behaupten. Ermöglichen statt Anleiten. Das bedeutet nicht, dass internationale Unterstützung unwichtig ist – im Gegenteil. Aber sie muss sich selbstkritisch reflektieren, ihre eigene Rolle neu denken und bereit sein, auch zurückzutreten, bestehende Strukturen zu durchbrechen und sich selbst zu verändern, damit andere sichtbar werden. Frieden gestalten heißt: Nicht für andere zu handeln, sondern gemeinsam mit ihnen. Nicht eine Wahrheit durchzusetzen, sondern verschiedene Perspektiven auszuhalten. Und nicht die Kontrolle zu behalten, sondern Verantwortung zu teilen. Die Frage „Frieden gestalten – aber wie?“ nicht als rhetorische, sondern als politische Frage weiterzutragen.
 


[1] Dieser Blogbeitrag basiert auf einem Vortrag vom 18.06.2025 im Rahmen der Vortragsreihe „Frieden in Theorie“ an der Universität zu Lübeck. 

Referenzen

Mac Ginty, R  (2021). Everyday Peace. How So-called Ordinary People Can Disrupt Violent Conflict. Oxford: Oxford University Press. 

Mac Ginty, R., & Richmond, O. (2015). The fallacy of constructing hybrid political orders: a reappraisal of the hybrid turn in peacebuilding. International Peacekeeping, 23(2), 219–239. https://doi.org/10.1080/13533312.2015.1099440

Paris, R. (2012). Saving Liberal Peacebuilding, in: Francis, D. (eds) When War Ends. Building Peace in Divided Communities. London: Routledge.

Spivak, G.C. (1988). ‘Can the Subaltern Speak?’, in: Cary Nelson and Lawrence Grossberg (eds) Marxism and the Interpretation of Culture. London: Macmillan.

Tsing, A. (2024). Friction: An Ethnography of Global Connection. Princton: Princton University Press.

Über die Autor*innen

Dr. Samantha Ruppel ist Politikwissenschaftlerin mit Schwerpunkt auf Friedensförderung und kritischer Friedensforschung. Seit 2024 ist sie Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Friedensakademie Rheinland-Pfalz. Zuvor war sie am German Institute of Development and Sustainability (IDOS), dem Peace Research Institut Frankfurt (PRIF) und der Goethe-Universität Frankfurt tätig. Sie ist Mitbegründerin von FEIN – Feminist-Intersectional Research and Consulting.