Religiös-politische Auseinandersetzungen in Indonesien

Anmerkungen zum Verhältnis von Einheit und Vielfalt in einem multireligiösen Land.

Von Timo Duile

Lange Zeit als Musterbeispiel für die Vereinbarkeit von Demokratie, Pluralismus und Islam gefeiert, haben sich besonders in den letzten Jahren Spannungen zwischen religiösen Gruppen in Indonesien verschärft. Vorläufiger Höhepunkt waren Massendemonstrationen gegen den christlichen Gouverneur von Jakarta Ende 2016. Radikalen islamischen Gruppen war dieser schon lange ein Dorn im Auge. Durch den Vorwurf der Blasphemie konnten aber nun Hunderttausende Muslime gegen ihn mobilisiert werden. Politische Forderungen aus radikalen und konservativen islamischen Kreisen scheinen nun auch in der Mitte der Gesellschaft salonfähig geworden zu sein.

Der aus dem altjavanischen stammende Spruch Bhinneka Tunggal Ika ist das offizielle Nationalmotto Indonesiens. Übersetzt wird es im Englischen oft mit “Unity in Diversity“, im Indonesischen mit “Berbeda-beda tetapi tetap satu” (verschieden, aber unumstößlich Eins). Dieses Motto weist sowohl  auf die nach europäischen Maßstäben außergewöhnliche kulturelle Vielfalt als auch auf das Bestreben hin, diese Vielfalt in einer Nation zusammenzuhalten und zu vereinen. Etwa 250 verschiedene Sprachen werden in Indonesien gesprochen. Es gibt hunderte verschiedene ethnische Gruppen in dem Land, das von Irland bis an das kaspische Meer reichen würde, würde man seine Umrisse über eine Karte von Europa legen. Vor allem aber bemüht sich das Land um sein Image als Land des religiösen Pluralismus und einer harmonischen multireligiösen Gesellschaft, auch wenn dieses Bild in den letzten Jahren deutliche Risse bekommen hat. Sechs Religionen sind vom Staat offiziell anerkannt: Neben dem Islam, zu dem sich nach offiziellen Angaben 87% der etwa 250 Millionen Einwohner bekennen  sind auch der Katholizismus, Protestantismus, Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus vom Staat anerkannt. In einem Urteil des Verfassungsgerichts wurde der Staat zudem jüngst aufgefordert, auch die indigenen Religionen, die in Indonesien zusammenfassend mit dem oft negativ konnotierten Begriff kepercayaaan bezeichnet werden, anzuerkennen.

Dennoch ist Indonesien kein Musterbeispiel für ein friedliches Zusammenleben der Religionen. Ende 2016 fanden in Jakarta die größten Demonstrationen in der Geschichte des Landes statt. Die Menschen protestierten nicht etwa gegen die immer noch grassierende Korruption oder die jährlich tausende Menschenleben kostende Umweltverschmutzung. Auch an die sich zusehends verschärfende soziale Kluft in dem Land, in dem nun etwa 100 Millionen Menschen als arm oder als von Armut bedroht gelten (während die vier reichsten Indonesier so viel besitzen wie diese 100 Millionen Armen zusammen), scheinen sich die Menschen gewöhnt zu haben. Zorn erregte vielmehr der christliche Gouverneur von Jakarta durch die Äußerung, dass die Leute ihn nicht wählen müssten, wenn sie sich lieber von  jenen belügen lassen würden, die behaupteten, dass ein Koranvers es Muslimen verbieten würde, einen nicht-Muslimen in politische Ämter zu wählen. Prompt sahen islamische Hardliner ihre Chance gekommen und unterstellten dem Gouverneur, er habe behauptet, der entsprechende Koranvers selbst sei eine Lüge. Glatte Blasphemie! In den Straßen Jakartas versammelten sich hunderttausende Menschen in weißen Gewändern. Der zuvor recht beliebte Gouverneur verlor nicht nur die Wahl gegen seinen Herausforderer, der sich im Wahlkampf offen mit gewaltbereiten Islamisten der Front Pembela Islam (Front der Verteidiger des Islams) gezeigt hatte, sondern wurde auch wegen Blasphemie zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.

Der Fall des Gouverneurs ist aber nur ein Teil eines recht düsteren Gesamtbildes. Im Namen von Moral und Religion hatten bereits Anfang 2016 etliche Minister und Geistliche gegen Homosexuelle und Transsexuelle gehetzt, obwohl viele Kulturen Indonesiens Geschlechter jenseits von Mann und Frau traditionell anerkennen. Dass man mit Religion gut Politik machen kann, haben inzwischen nicht nur Politiker in Jakarta erkannt. Vor allen in konservativen Gebieten werden schon seit Jahren immer mehr Scharia-inspirierte Gesetze erlassen, oft zum Leidwesen von religiösen Minderheiten und Menschen, die lieber einen säkularen Lebensstil pflegen. Besonders betroffen von diesen Gesetzen sind auch Frauen, die sich z.B. an Kleidervorschriften halten müssen oder abends nicht ohne Begleitung eines männlichen Verwandten oder Ehemannes das Haus verlassen dürfen. Im indonesischen Fernsehen werden mittlerweile sogar Zeichentrickserien wie Spongebob, Doraemon oder Shaun das Schaf zensiert, weil z.B. ein Zeichentrick-Eichhörnchen im Badeanzug offenbar dazu geeignet scheint, die Moral der Jugend zu korrumpieren. Während noch vor 20 Jahren Frauen oft ohne Kopftuch auf die Straße gingen, dominiert heute selbst in den großen Städten islamische Kleidung. Kleidung und Alltagsverhalten sind längst Ausdruck eines konservativ-religiösen Lebensgefühls geworden, auf die sich die Politik eingestimmt hat. Eine Umfrage des Lembarga Survei IndonesiaEnde 2017 ergab, dass mittlerweile etwa die Hälfte aller Wählerinnen und Wähler in Indonesien der Meinung sind, dass nicht-Muslime keine höheren politischen Ämter anstreben sollten.

Die konservative Wende in Politik und Gesellschaft – und nicht zuletzt in den religiösen Institutionen selbst – vollzog sich vor allem seit dem Ende der Suharto-Diktatur 1998. Im Jahre 2005 erließ der einflussreiche Rat der Ulama Indonesiens (Majelis Ulama Indonesia, MUI), in dem sowohl die großen, als gemäßigt geltenden Organisationen wie auch radikale Gruppen vertreten sind, ein islamisches Rechtsgutachten (fatwa), das Liberalismus, Pluralismus und Säkularismus als verboten (haram) klassifizierte. Vor allem die Einstufung von Pluralismus als haram in einem Land, dessen Nationalmotto „Einheit in der Vielfalt“ ist, mag verwundern. Hinter der fatwa stand die Ansicht, dass die einzelnen Religionen sich nicht mischen, sondern jeweils abgeschlossene gesellschaftliche Einheiten bilden sollten: In den Augen der Ulama sollte ein „reiner“ Islam bewahrt werden. Pluralismus führe nach diesem Verständnis zu einer Verunreinigung des Glaubens. So ist auch zu erklären, warum viele konservative Ulama es für haram halten, wenn Muslime ihren christlichen Mitbürgern frohe Weihnachten wünschen.

Die gegenwärtige Gesellschaft in Indonesien entwickelt sich im Zuge dieser konservativen Wende in schnellem Tempo wieder zu dem, was John Furnivall in den 1930er Jahren die „plurale Gesellschaft“ Niederländisch-Indiens nannte. Mit diesem Begriff verband er die Diagnose, dass die Menschen in verschiedenen Gruppen unter einer politischen Einheit, dem kolonialem Staat, lebten. Die einzelnen Gruppen, so Furnivall, unterscheiden sich in ihrer Sprache, ihrem Gewohnheitsrecht (adat) und ihrer Religion und leben im Alltag weitgehend voneinander abgeschottet. Sie interagieren nur miteinander auf dem Marktplatz, wo sie aber einander als Käufer, Verkäufer und Konkurrenten gegenübertreten. Aus dieser Interaktion auf dem Marktplatz lasse sich keine gemeinschaftsstiftende Solidarität und keine gemeinsame Identität schaffen. Wenn man sich das heutige Indonesien ansieht scheint es, als sei das ganze Land ein riesiger Marktplatz, von Luxusmalls in den großen Städten bis zu den Verkäufern am Straßenrand wird überall alles Mögliche angeboten. Und die Gesellschaft ist heute mehr denn je fragmentiert, vor allem entlang religiöser Identitäten. Die Demonstrationen gegen den christlichen Gouverneur waren da nur eine Erscheinungsform dieser gesellschaftlichen Fragmentierung: In christlichen Gebieten, zum Teil tausende Kilometer entfernt von der Hauptstadt, kam es zu zahlreichen Demonstrationen und Solidaritätsbekundungen für den christlichen Gouverneur. Sicherlich nicht zu Unrecht fühlten die Menschen, dass islamische Gruppen nun den Weg dafür ebneten, dass nicht-Muslime in Zukunft in der Politik keine wichtige Rolle mehr spielen sollen. Dies stellt heute die Gleichheit der indonesischen Bürgerinnen und Bürger massiv in Frage – und es war nicht zuletzt dieses Ideal auf eine egalitärere Gesellschaft, die viele Kämpferinnen und Kämpfer für die indonesische Unabhängigkeit antrieb.

Man kann die indonesische Unabhängigkeitsbewegung – zumindest weite Teile dieser Bewegung – als einen Versuch deuten, die plurale, fragmentierte Gesellschaft der Kolonialzeit hinter sich zu lassen und eine neue, gemeinsame Nationalkultur der Einheit zu schaffen. Diese Bemühung fand ihren Ausdruck schon in der Wahl der fast überall im Archipel verbreiteten malaiischen Handelssprache als indonesische Nationalsprache. Weder das hierarchische Javanisch noch die Sprache einer anderen ethnischen Gruppe und schon gar nicht das Niederländische kamen als Sprache der neuen Nation in Frage. Die vergleichsweise egalitäre malaiische Handelssprache als Nationalsprache zu wählen war ein genialer Einfall um eine indonesische Identität und Einheit zu schaffen.

Religion spielte im Prozess der Suche nach Einheit und der nationalen Identität gewiss von Anfang an eine wichtige Rolle, was sich auch in der ersten Säule der indonesischen Nationalphilosophie Pancasila niederschlägt. Nach dieser beruht der Staat auf dem Konzept eines all-einen Gottes (Kethuhanan yang Maha Esa), man könnte auch sagen auf monotheistischem Glauben (und in der Tat sind alle anerkannten Religionen in Indonesien monotheistisch konzipiert). Für das Hervorbringen einer gemeinsamen kulturellen Identität spielten während und in den Jahren nach dem Unabhängigkeitskampf aber vor allem auch sozialistische und kommunistische Ideen eine zentrale Rolle. Indonesien schloss sich der Blockfreienbewegung an, deren politische Kultur sehr stark von egalitären, demokratischen und populistischen Inhalten geprägt ist. Sukarno, der erste Präsident des Landes, versuchte religiöse Kräfte und Kommunisten miteinander zu versöhnen. Für ihn war Indonesisch-Sein gleichbedeutend mit Links-Sein und Religiös-Sein.

Nach der blutigen Vernichtung von hunderttausenden Kommunisten zwischen 1965 und 1968 durch die Armee wurde dieser Prozess der Suche nach Einheit und indonesischer Identität jedoch radikal umgeworfen. Die neue Regierung unter Suharto, der das Land bis zur asiatischen Wirtschaftskrise 1998 regierte, setzte auf eine Depolitisierung der Massen. Denken in klaren Hierarchien war wieder gefragt und jegliche linken Bewegungen wurden dämonisiert und verboten. Links-Sein hieß Kommunistisch-Sein, und das war in der Propaganda des Suharto-Regimes gleichbedeutend mit antireligiösen, also anti-staatlichen Haltungen. Obwohl auch der politische Islam unter Suharto zunächst unterdrückt wurde, hat sich der Islam als politische Identität im Gegensatz zu linken Ansätzen seine Legitimität in den Augen vieler Indonesier bewahrt. Nur das erklärt, warum heute der Islam nicht nur als gesellschaftlicher Faktor, sondern auch als politische Kraft so einflussreich ist. Dies führt aber in dem multireligiösen Land unweigerlich zu einer gesellschaftlichen Fragmentierung, und in gewissem Sinne wieder zurück zur pluralen Gesellschaft der späten Kolonialzeit.

Immer wieder gibt es Berichte, die darauf verweisen, dass bei den Wahlen im nun demokratischen Indonesien doch „säkulare“ oder „nationalistische“ Parteien mehr Stimmen holen würden als religiöse Parteien. Hier muss aber eingewandt werden, dass in Indonesien die Trennung zwischen diesen Lagern nicht so eindeutig ist. Auch auf den ersten Blick ist in eher nationalistisch ausgerichtete Parteien  Religion ein wichtiger Faktor in Wahlkampf und Politik. Wenn religiös inspirierte Gesetze erlassen werden, sei es auf regionaler oder nationaler Ebene, dann sind viele der augenscheinlich säkularen Parteien auch mit dabei, weil diese nicht als weniger religiös oder gar religionskritisch gelten wollen.

Erstarkte religiöse Bewegungen beziehen sich ebenfalls oft positiv auf die Idee der indonesischen Nation. Ihr Ziel ist jedoch eine plurale Gesellschaft mit islamisch-sunnitischer Vorherrschaft, ausgedrückt im Konzept des NKRI bersyariah (Der Einheitsstaat Indonesien unter Scharia-Recht). Auch diese Idee hat in Indonesien Tradition, aber erst jetzt, im Zuge der konservativen Wende in der Gesellschaft, besteht die Chance, Anhänger in beachtlicher Zahl für diese Idee zu gewinnen. Dass sich islamische und islamistische Bewegungen dabei vor allem an die immer noch etwa 100 Millionen Armen oder von Armut bedrohten Indonesier richten, verwundert dabei nicht, denn diesen Menschen steht eine politische Alternative etwa in Form einer linken Partei oder Bewegung nicht zur Verfügung. Es bleiben also der politische Islam und Identitätspolitik als Ideologien gegen soziale Ungerechtigkeit und die immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich. Natürlich bieten islamistische Gruppen dabei keine fundierte ökonomische Analyse, sondern mobilisieren Ressentiments gegen vermeintlich reiche oder untereinander konspirierende Christen oder chinesischstämmige Indonesier.

Die aktuellen religiösen Auseinandersetzungen lassen sich vor dem hier kurz skizzierten historischen Überblick vielleicht etwas besser verstehen. Letztlich geht es auch bei diesen Auseinandersetzungen darum zu bestimmen, was indonesische Identität eigentlich ausmacht und wie in ihr das Verhältnis von Einheit und Vielfalt gedacht werden soll. Das Nationalmotto Bhinneka Tunggal Ika lässt viel Raum für verschiedenste Interpretationen. Von einer pluralen Gesellschaft unter Scharia-Recht bis hin zu einer inklusiven Gesellschaft, in der die einzelnen Gruppen einen kritischen aber respektvollen Umgang pflegen und verschiedene (Religions-)Gemeinschaften keine monadischen Gruppen bilden, sondern den kulturellen Austausch pflegen, ist alles möglich. Eine wichtige Frage dabei ist auch, wie sich der Staat und seine Institutionen in dieser Auseinandersetzung verhalten. Wenn, wie in den letzten Jahren immer wieder geschehen, islamistische Gruppen in Zusammenarbeit oder zumindest unter Billigung der Polizei gegen religiöse Minderheiten wie Schiiten oder Ahmadis, gegen Lesben und Schwule oder die Opfer der antikommunistischen Kampagnen hetzen und martialisch ihre Gewaltbereitschaft demonstrieren, dann scheint das als schlechtes Zeichen für die Zukunft. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Menschen, die sich um Pluralismus und gegenseitigen Respekt bemühen, nicht vollends durch religiöse Hardliner einschüchtern lassen .

Über die Autor*innen

Dr. Timo Duile ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Orient- und Asienwissenschaften an der Universität Bonn. Er hat Politikwissenschaft, Ethnologie und Philosophie in Bonn und indonesische Sprache in Denpasar/Bali studiert und war Lehrbeauftragter am Institut für Ethnologie der Universität Köln. Er forschte in West-Kalimantan (zu indigenen Bewegungen) und Jakarta (zu säkularen Identitäten in religiösen geprägten sozialen Umfeldern).