Alles im Fluss? Erst Erholung, dann Stagnation: Der Zustand der Artenvielfalt in europäischen Flüssen
Langzeitstudie zeigt, dass der Aufschwung der europäischen Süßwasser-Biodiversität seit den 2010er Jahren ins Stocken geraten ist
Eine Pressemitteilung der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Frankfurt/Gelnhausen/Landau, 09.08.2023. Senckenberg-Forschende haben gemeinsam mit einem großen internationalen Team, darunter Forschende der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau (RPTU), anhand wirbelloser Tiere den Zustand und die Entwicklung der Biodiversität in europäischen Binnengewässern im renommierten Fachjournal „Nature“ vorgestellt. In ihrer heute erschienenen Studie zeigen sie, dass die biologische Vielfalt in Flusssystemen aus 22 europäischen Ländern über einen Zeitraum von 1968 bis 2020 deutlich angestiegen ist. Das Wissenschaftler*innen-Team warnt jedoch, dass dieser positive Trend seit 2010 stagniert und sich viele Flusssysteme nicht vollständig regenerieren konnten. Sie fordern daher zusätzliche Maßnahmen, um die Erholung der biologischen Vielfalt in Binnengewässern wiederzubeleben – Süßgewässer-Ökosysteme seien weiterhin und zukünftig großen Belastungen, wie Verschmutzung, Klimawandel und invasiven Arten, ausgesetzt.
Auch wenn Eintags-, Stein-, und Köcherfliegen zu den Fluginsekten zählen – den Großteil ihres Lebens verbringen sie als Larve im Wasser. „Diese und viele weitere wirbellose Tiere tragen zu wichtigen Ökosystemprozessen in Süßgewässern bei. Sie zersetzen organische Stoffe, filtern Wasser und transportieren Nährstoffe zwischen aquatischen und terrestrischen Bereichen. Darüber hinaus sind solche Invertebraten seit langem ein Eckpfeiler zur Überwachung der Wasserqualität“, erläutert Erstautor der Studie Prof. Dr. Peter Haase vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt und fährt fort: „Solch eine Kontrolle ist immens wichtig, denn Flüsse und Seen sind großen anthropogenen Belastungen ausgesetzt und gehören zu den am stärksten vom Verlust der biologischen Vielfalt bedrohten Ökosystemen.“
Binnengewässer sind durch die landwirtschaftliche und städtische Flächennutzung verschiedenen anthropogenen Belastungen ausgesetzt. Sie akkumulieren Schadstoffe, organisch belastete Abwässer, Feinsedimente und Pestizide und sind darüber hinaus durch Veränderungen, wie beispielsweise Dämme, Wasserentnahme, invasive Arten und den Klimawandel bedroht. „Als Reaktion auf den schlechten Zustand der Gewässer in den 1950er und 1960er Jahren wurden zur Wiederherstellung von Süßwasserlebensräumen beispielsweise mit dem ‚US Clean Water Act‘ von 1972 und der EU-Wasserrahmenrichtlinie von 2000 wichtige Gegenmaßnahmen ergriffen“, erklärt Senior-Autorin Dr. Ellen A.R. Welti, vormals Senckenberg-Wissenschaftlerin und nun Forschungsökologin in den USA am Smithsonian's Conservation Ecology Center und spricht weiter: „Diese Maßnahmen führten zu einem deutlichen Rückgang der organischen Verschmutzung und der Versauerung ab etwa 1980. In den letzten 50 Jahren haben diese Schritte zur Eindämmung der Abwasserbelastung und so zu den aufgezeigten Verbesserungen der biologischen Vielfalt im Süßwasser beigetragen.“ Ko-Autor Prof. Dr. Ralf B. Schäfer von der RPTU unterstreicht: „Dennoch nehmen die Anzahl und die Auswirkungen der Stressfaktoren, welche diese Ökosysteme bedrohen, weltweit weiter zu, und die biologische Qualität der Flüsse ist nach wie vor vielerorts unzureichend.“
Gemeinsam mit einem großen internationalen Team haben Haase, Welti und Schäfer einen umfassenden Datensatz von 1.816 Zeitreihen analysiert, die zwischen 1968 und 2020 in Flusssystemen in 22 europäischen Ländern gesammelt wurden und 714.698 Beobachtungen von 2.648 Arten aus 26.668 Proben umfassen. Die Auswertungen zeigen, dass sowohl die Artenvielfalt mit 0,73 Prozent pro Jahr als auch die funktionelle Diversität mit jährlichen 2,4 Prozent und die Häufigkeit der Arten mit 1,17 Prozent im Jahr über den Zeitraum der 53 Jahre deutlich angestiegen ist. „Diese Zuwächse traten jedoch hauptsächlich vor 2010 auf und haben sich seitdem leider auf einem mehr oder weniger gleichbleibenden Niveau eingependelt. Während die Zunahme der biologischen Vielfalt in den 1990er und 2000er Jahren wahrscheinlich die Wirksamkeit von Wasserqualitätsverbesserungen und Renaturierungsprojekten widerspiegelt, deutet die sich anschließende stagnierende Entwicklung auf eine Erschöpfung der bisherigen Maßnahmen hin“, ergänzt Haase.
Laut den Studienergebnissen erholten sich Süßwassergemeinschaften flussabwärts von Staudämmen, städtischen Gebieten und Ackerland weniger schnell. „Die Ergebnisse bestätigen frühere Studien von uns, nach denen Schadstoffe wie Pestizide Gewässer nach wie vor erheblich belasten“, erläutert Ralf Schäfer. Die Fauna an Standorten mit schnellerer Erwärmung verzeichneten zudem geringere Zuwächse in der Artenvielfalt, der Häufigkeit der Individuen und der funktionellen Diversität. Welti fügt hinzu: „Basierend auf einem Teildatensatz – 1299 von 1816 – konnten wir zeigen, dass rund 70 Prozent der Flussabschnitte nicht-heimische Arten aufweisen mit einem durchschnittlichen Anteil von 4,9 Prozent der Arten und 8,9 Prozent der Individuen. Es ist außerdem zu beobachten, dass sich die eingewanderten Tiere in städtischen Gebieten und stärker belasteten Lokalitäten besser zurechtfinden als die heimische Fauna. Dies könnte zu einem Verlust seltener und empfindlicher einheimischer Arten führen“.
Erhebliche Investitionen seien erforderlich, um die Abwassernetze auszubauen und die Kläranlagen zu verbessern. Das Überlaufen von Kläranlagen bei Starkregen könnte verhindert und Mikroverunreinigungen, Nährstoffe, Salze sowie andere Schadstoffe wirksamer entfernt werden, so die Autor*innen. Darüber hinaus plädiert das Forschungsteam für weitere Maßnahmen, insbesondere die Reduktion von Einträgen von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln aus landwirtschaftlichen Flächen, die Anbindung von Überschwemmungsgebieten zur Reduktion zerstörerischer Überschwemmungen sowie zur Anpassung unserer Flusssysteme an künftige klimatische und hydrologische Bedingungen.
„Künftig sollte zudem die Überwachung der biologischen Vielfalt in Verbindung mit der parallelen Erhebung von Umweltdaten erfolgen. Nur so können wir die zeitlichen Veränderungen innerhalb der Artenvielfalt wirksam beschreiben, umweltbedingte Faktoren und stark gefährdete Gebiete ermitteln und den Schutz der biologischen Vielfalt maximieren!“, schließt Haase.
Die Studie
Haase, P., D.E. Bowler, N.J. Baker, ..., E.A.R. Welti (2023) The recovery of European freshwater biodiversity has come to a halt. Nature 620 (Issue 7974)
DOI: 10.1038/s41586-023-06400-1
Fragen beantworten
Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt
Prof. Dr. Peter Haase
E-Mail: peter.haase[at]senckenberg.de
Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau (RPTU)
iES Landau - Institut für Umweltwissenschaften
AG Landschaftsökologie
Prof. Dr. Ralf B. Schäfer
E-Mail: schaefer.ralf[at]rptu.de
Weitere Informationen zur Senckenberg Gesellschaft: www.senckenberg.de
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