Semiotik heute: Zeichen, Kulturen und Digitalität
Die fächerübergreifende Wissenschaft der Zeichensysteme und des Zeichengebrauchs – so kann der Begriff Semiotik übersetzt werden – steht vor einer großen Herausforderung: Die Bedeutung der Zeichen für unsere Kultur in einer Welt, die zunehmend digital wird. Die Deutsche Gesellschaft für Semiotik (DGS) traf sich im Herbst 2024 an der RPTU in Landau zu einem mehrtägigen Kongress, der durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und die RPTU gefördert wurde. Über 100 Semiotikerinnen und Semiotiker aus ganz Deutschland und vielen anderen Ländern nutzten vier Tage intensiver Debatten und fachübergreifender Vorträge, um sich dieser Aufgabe zu stellen.
Semiotik ist eine fächerübergreifende Wissenschaft, bei der sich alles um Zeichen dreht. Von der Sprachwissenschaft bis zur Informatik befassen sich die Forscherinnen und Forscher mit ihnen, mit deren Entwicklung und Geschichte, mit ihrer Verwendung und Bedeutung für Kulturen. Wer jetzt ins Grübeln kommt, was alles um uns herum ein Zeichen ist, wird merken, wie endlos die Liste wird. „Wir Semiotiker betrachten alles als Zeichen, das mit einer Bedeutung verknüpft wird“, sagt Professor Jan Georg Schneider, Sprachwissenschaftler an der RPTU in Landau, leidenschaftlicher Semiotiker und als Vorsitzender der DGS bis 2024, Ausrichter des diesjährigen Semiotik-Kongresses.
Die Sprachwissenschaft ist dabei nur eine der Fachdisziplinen, die sich mit der Bedeutung der Zeichen auseinandersetzt. So waren auf dem diesjährigen DGS-Kongress Vertreterinnen und Vertreter aus den Fachbereichen Informatik, Digital Humanities, Philosophie, Erziehungswissenschaft, Medienpädagogik, Design, Bildforschung, Kulturwissenschaften und Medienwissenschaften vertreten.
„Um uns herum haben wir die offensichtlichen Zeichen, wie Straßenschilder, Gesten oder Emojis“, erklärt er weiter. „Wir, die Forscherinnen und Forscher im Bereich der Semiotik, fassen den Zeichenbegriff aber wesentlich weiter. Geschriebene und auch gesprochene Wörter sind semiotisch gesehen ebenfalls Zeichen, die in der Kommunikation verwendet werden. Semiotisch interessant ist es auch, wenn zum Beispiel in der Werbung Bilder und geschriebene Sprache, also bildliche und schriftliche Zeichen, miteinander verbunden werden und dabei neue Bedeutung entsteht.“ Nichts um uns herum, führt er weiter aus, habe aus sich heraus eine Bedeutung. Die gesamte Gesellschaft ist es, durch die bestimmte Bedeutungen entwickelt werden. Das Entstehen einer solchen Bedeutung ist der sogenannte Zeichenprozess (Semiose).
Bedeutungen finden in einer digitalen Welt
Wenn also alles um uns herum, Vergangenes und Gegenwärtiges, vorher durch eine Semiose Bedeutung erfahren hat, ist klar, dass auch Zukünftiges zunächst durch einen solchen Zeichenprozess gehen muss. Erst dann hat das Phänomen, die Sache oder der Prozess für alle Menschen eine sinnhafte und ausreichend ähnliche Bedeutung. Jetzt erst festigt sich eine ausreichend ähnliche Wortverwendung in der Gesellschaft. „Gerade aber im Bereich Digitalisierung schlägt die Technikgläubigkeit der Semiotik ein Schnippchen. Nehmen wir das Beispiel der Begrifflichkeit ‚Künstliche Intelligenz (KI)‘. Dieser Begriff wurde bereits in den 1950er Jahren von Informatikern kreiert, um zu zeigen, dass sich wesentliche Merkmale menschlicher Intelligenz durch Maschinen nachahmen lassen.“ Heute ist dieser Begriff in aller Munde, und dabei wird – meistens unhinterfragt – maschinelle ‚Intelligenz‘ mit menschlicher Intelligenz gleichgesetzt. Wichtig bleibe zu hinterfragen, ob dies angemessen oder eher irreführend ist. Das Wort Intelligenz bringe uns Menschen hier auf eine falsche Fährte, da wir diesen Begriff, dieses Zeichen, anders verbinden würden: Intelligent – im engeren Sinne – könne nur sein, was lebt. „Eine künstliche Intelligenz löst bei vielen Menschen demnach Besorgnis aus, weil gefürchtet wird, von einem nicht greifbaren Wesen überrollt zu werden. Oder es wird dieser KI – weil sie eben mit dem Zeichen ‚intelligent‘ beschrieben wird – ein nahezu menschliches Entscheidungsportfolio zugetraut. Man verlässt sich also auf die KI.“
Tatsächlich ist die KI aus vielen gesellschaftlichen Bereichen nicht mehr wegzudenken: Sie telefoniert mit uns in Servicehotlines, bevor wir mit einem menschlichen Mitarbeitenden verbunden werden, sie optimiert die Essenszahlen in der Uni-Mensa, sie steuert Autos beim Einparken, bewertet und schreibt Texte oder analysiert Nutzerverhalten. Was passiert bei einem solch großen Einfluss mit dem notwendigen Zeichenprozess, der die Voraussetzung für ein kritisches Auseinandersetzen mit der Technologie ist? Und wie ist die sonst analoge Semiose in der digitalen Welt überhaupt darstellbar?
Semiotik macht Kultur kommunizierbar
Genau diese Fragen und wie sich die Digitalität auf Kultur und Gesellschaft auswirkt, treiben die interdisziplinär vernetzten Semiotikerinnen und Semiotiker um. So wurde Digitalität zum zentralen Thema des diesjährigen DGS-Kongresses gewählt. „Wir haben uns gefragt, wie das Digitale in die Gesellschaft eingreift und welche Rolle die Semiotik spielen muss, damit das Digitale und KIs unsere Werkzeuge bleiben und nicht umgekehrt“, führt Schneider aus.
„Unsere gesamte Kulturentwicklung basiert auf Zeichenverwendung und damit verbundener Bedeutungszuschreibung, die menschliche Kommunikation ermöglicht. So wird deutlich, was verloren ginge, wenn dieser Bedeutungsprozess auf einmal nicht mehr funktioniert. Die Gefahr ist beispielsweise, dass unser demokratisches und humanistisches Menschenbild durch die Rationalisierung eines Algorithmus verfälscht wird“, so der Experte weiter. „Begriffe und ihre Definition schaffen Wirklichkeit. Wir müssen also aufpassen, dass die Begriffsdefinition, die zählenden Algorithmen Intelligenz zuschreibt, in der Gesellschaft nicht unreflektiert als Wirklichkeit angenommen wird.“
Interessante Schlüsse: KI und Bildung
Nach vier intensiven Workshop-Tagen, vielen interdisziplinären Fachvorträgen zum Thema Semiotik, KI und Digitalisierung bildete eine Podiumsdiskussion mit dem Titel „KI in der Bildung“ den krönenden Abschluss.
Auf der Bühne diskutierten die Semiotik-Expertinnen und -Experten Ralf Becker, Professor für Philosophie an der RPTU in Landau, Mandy Schiefner-Rohs, Professorin für Pädagogik mit den Schwerpunkten Schulpädagogik und Medien an der RPTU in Kaiserslautern, Katharina Zweig, Professorin für Informatik an der RPTU in Kaiserslautern und Doktor Klaus Bernsau, Semiotiker, neuer Geschäftsführer der DGS, der im Bereich Marketing und Digitalisierungsberatung arbeitet und an der Hochschule Rhein-Main die dortigen StartUpLabs leitet.
Der einhellige Tenor: Der generelle Umgang mit KI, insbesondere aber auch der kritische Umgang damit, muss in der Schule gelehrt werden. „Die Kernmedienkompetenz muss sein, dass Informationen, die von einer KI generiert sind, selbstbestimmt und reflektiert gegenübergetreten werden kann“, betonte Mandy Schiefner-Rohs. Dem stimmte Katharina Zweig zu und spricht sich für mehr Bildung rund um Digitalisierung und KI in allen Schulen aus, bei der ein Grundverständnis für digitale Technologien und ein kritisches Auseinandersetzen mit ihnen gelehrt wird. Bereits jetzt ist das Vermitteln dieser Kompetenzen Teil des, in Deutschland einmaligen, Studiengangs Sozioinformatik an der RPTU in Kaiserslautern.
„KI kann die Apotheke sein“, die uns Menschen Mittel zum Zweck liefert, so die Expertenrunde. Aber davon sei man momentan noch weit entfernt. Denn „die Mittel verselbständigen sich momentan“, gab Becker zu bedenken. Heute würden Schulbücher bereits durch KIs optimiert, indem die digitalen Nutzungsdaten von Schülerinnen und Schülern ausgewertet werden, ergänzte Schiefner-Rohs die Diskussion. „Damit entsteht die Gefahr einer Schieflage: Erstens muss die Verantwortung der Bildungsinhalte beim Bildungsministerium und nicht bei einzelnen Bildungstechnologie-Anbietern liegen, zweitens – ein weitaus wichtigerer Aspekt – müssen die Bildungsziele weiterhin durch Menschen definiert werden, nicht durch eine KI“, so die Expertin weiter.
Bernsau brachte die Rolle der Semiotik im Zeitalter der Digitalität auf den Punkt: „Die Semiotik kann Begrifflichkeiten zur Verfügung stellen, die das gemeinsame Arbeiten zu Digitalität in Wirtschaft und Gesellschaft möglich machen.“ Er sieht die Dienstleistung der Semiotik im Digitalisierungsprozess in einer Übersetzungsleistung. „Ein erster Schritt könnte sein, statt von ‚Künstlicher Intelligenz‘ lieber von ‚Automatisierung‘ zu sprechen. “
Zweig verwies auf die 2024 verabschiedete KI-Verordnung der EU. Danach könnten einige Anwendungen von KI, die beispielsweise im Bildungsbereich eigenständig Bewertungen vornehmen, zu der sogenannten "Hochrisiko-Gruppe" gehören, die stärker reguliert werden soll. Sie selbst empfiehlt, KI dort nicht zu verwenden, wo sie genau diese Funktion übernimmt. „Wir befinden uns also mitten auf dem Weg hin zu einem allgemeinen Verständnis, wie wir uns die Technologie nutzbar machen und wo sie einfach nichts verloren hat.“
„Dazu brauchen wir aber dringend souveräne Menschen“, warf Schiefner-Rohs ein. Schule diene nicht nur der Wissensvermittlung, sondern müsse dazu beitragen, dass Menschen eine solche individuelle Souveränität entwickeln können.
„Sozioinformatik scheint ein Schlüssel zur Lösung zu sein, damit ein ethisch-kritischer Umgang mit KI in die Bildungspläne integriert wird“, fasste Moderator Schneider zum Ende der Diskussion zusammen. „Und bis dahin können wir als Semiotikerinnen und Semiotiker das Thema Digitalisierung und KI greifbarer machen, indem wir die Zeichenprozesse vorantreiben und damit an einen Punkt gelangen können, an dem wir als Gesellschaft das Thema kritisch und mit hoher Urteilskraft angehen können.“ Digitalisierung stelle zwar so manchen Zeichenprozess auf den Kopf, berge aber bei souveräner Nutzung Chancen, ein gutes Werkzeug in vielen Bereichen zu sein.
Die Teilnehmenden des DGS-Kongresses gehen mit neuen Klarheiten an ihre jeweiligen Wirkungsstätten zurück: Die Semiotik ist in den schnelllebigen Zeiten von Digitalisierung und KI ein Fels in der Brandung und kann Erklärungen und Definitionen liefern. Diese wiederum sind nötig, damit Digitalisierung und KI ein Werkzeug der Menschheit ist und nicht umgekehrt, dass der Mensch sich zum Werkzeug der KI herabstufen lässt.
Text: Miriam Tsolakidis
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